Kurzer Traum vom Paradies

Ahalla und Nkamo sind per Schiff aus Afrika nach Italien gekommen. Wie die zahllosen anderen illegalen Immigranten sind auch sie auf der verzweifelten Suche nach einer „Normalisierung“ ihrer Lage  ■ Aus Süditalien Werner Raith

Die Pforten zu dem, was Ahalla und Nkamo als das Gelobte Land ansehen, öffneten sich am 28. März 1998. Da wurden die beiden illegalen Immigranten aus dem Notaufnahmelager von Trapani auf Sizilien „freigesetzt“, wie der Ausdruck heißt. Zuvor hatten sie das foglio di via ausgehändigt bekommen, das Ausweisungspapier: Innerhalb von 15 Tagen hätten sie das Land zu verlassen. Wohin, wird nicht gesagt, und auch sonst weist das Schriftstück eher Anzeichen behördlicher Ratlosigkeit denn eine effiziente Handhabung der Immigrantenproblematik auf. Name: keine Angabe. Nachname: keine Angabe (Ahalla und Nkamo hatten sie sich offenbar erst im Lager zugelegt). Herkunft: unbekannt, Großraum Afrika (bei der Hautfarbe der beiden nicht sehr schwer herauszufinden). Alter: zwischen 25 und 40. Augen: dunkelbraun. Größe... und so weiter.

Ahalla und Nkamo haben sich erst im Camp kennengelernt. Ihre Wege sollten sich gleich wieder trennen, kaum daß sich für sie die Türen des Aufnahmelagers öffneten. Vier Wochen waren sie, wie das Gesetz es vorsieht, zur „Feststellung der Identität“ festgehalten worden, nachdem die Polizei sie vor Lampedusa beziehungsweise Syrakus halbtot aus dem Wasser gefischt hatte: Ihre Schlepper, die für die „Überfahrt“ mehr als 5.000 Dollar erhalten haben sollen, hatten sie zusammen mit Leidensgenossen außerhalb der Siebenmeilenzone in ein altes Schlauchboot gedrängt und ihrem Schicksal überlassen. Versprochen hatten sie ihnen Betreuung in Italien und Verdienstmöglichkeiten von 2- bis 3.000 Dollar pro Monat „für Burschen, die etwas draufhaben“. Was sie draufhaben sollen, sagte ihnen keiner, aber beide wurden, obgleich ihre Länder Tausende Kilometer voneinander entfernt liegen, nach fast identischem Muster „schon mal auf Muskelkraft, schnelle Reaktion und Gewaltbereitschaft getestet“ – je kräftiger einer zuhauen kann, um so mehr versprechen die Menschenschieber.

Doch nun sind sie beide in Italien. Im Notaufnahmelager von Trapani flüsterte ihnen schon wenige Minuten nach ihrer Einlieferung eine Art Kalfaktor zu, wie es weitergeht: Wer sagt, wie er heißt und woher er kommt, wird zwar besser behandelt – aber dafür auch alsbald in sein Herkunftsland abgeschoben. Wer es nicht sagt, kommt in den „hinteren Pferch“ (Aufseherjargon), muß aber laut Gesetz nach einem Monat entlassen werden, wenn bis dahin seine Identität nicht festgestellt werden kann. Und dann, so der Kalfaktor, gäbe es „draußen“ Menschen, die sich um sie kümmern würden. Die 15 Tage, die sie sich frei bewegen können, seien ausreichend, Arbeit und Unterkunft zu finden.

Als wir vereinbarten, daß sie, wo immer sie auch seien, jeden Monat einmal bei mir anrufen, waren sie noch guter Dinge: „Wir werden es schon schaffen.“

Nach gut drei Wochen riefen die beiden kurz hintereinander an: Ahalla war in Unteritalien, Nkamo lief in Lercara Friddi südlich von Palermo herum. Ihre „Betreuer“ hatten sich nicht gemeldet, und einige Versuche, sich bei anderen, schon integrierten Immigranten einzuschmeicheln, waren deprimierend fehlgeschlagen: „Die Solidarität unter uns Einwanderern“, sagte Nkamo verbittert, „ist noch geringer als die zwischen Einheimischen und uns.“ Die einzigen „Angebote“, die er bekommen hatte, waren von einem Schutzgeldeintreiber, der Immigranten, die es zu regulärer Arbeit gebracht hatten, um einen Teil ihrer Einkommen erleicherte. Er hatte abgelehnt; aber aus seiner Stimme ist auch Bedauern zu hören. Ahalla dagegen hatte sich in verschiedenen Orten mit Tagelöhnerarbeiten durchgeschlagen. Da ihm aber niemand eine feste Arbeit geben wollte, war er nun auf dem Weg in die Berge, wo die Äcker und Olivenhaine bestellt wurden, und hoffte dort, bei den Großgrundbesitzern, auf bessere Ausichten.

Anläßlich einer Reise nach Palazzo Adriano in Innersizilien können wir uns treffen. Nkama hatte allerdings eine Adresse gegeben, die nicht eben präzise klang: „Autostrada Palermo–Messina nahe km 12“. Doch sie erweist sich als genau: Als ich langsam heranfahre, um die Kilometertafel zu lesen, steht er schon am Straßenrand. Meine Einladung ins Auto nimmt er nicht an – er läuft nebenher bis zu der Ausbuchtung, an der ich parken kann. „Da wohne ich“, sagt er und weist hinunter in Richtung Meer. Haus ist keins zu sehen, nur einige Geröllhügel und Plastikplanen über einigen Pfählen.

Er „wohnt“ tatsächlich dort. Tüten liegen herum, Konservendosen, löcherige Eimer, ein paar zerschlissene Matratzen – und Eisenstangen, einige davon auf der einen Seite mit Lumpen umwickelt. Fackeln? „Nein, Schlagstöcke, leider lebt man hier nicht sehr sicher.“ Aber was will denn jemand von ihm, einem totalen Habenichts? „Nicht alle, die so aussehen wie ich, sind Habenichtse“, sagt er, „viele haben Rauschgift mitgebracht, einige, aus Südafrika, auch Diamanten eingeschmuggelt.“ Ihn selbst haben „Kontrolleure“, wie er die nächtlichen „Besucher“ respektvoll nennt, bereits ein halbes Dutzend mal gefilzt. Aber das war, als er noch mit einigen anderen Illegalen in einem verfallenen Bauernhaus lebte; dorthin hatte sie ein Lastwagenfahrer gebracht, der offenbar auf das Aufsammeln von solchen Leuten (und das folgende Ausplündern) spezialisiert war. Seither hat Ahalla eine Art Innenraum- Trauma: Er zieht es vor, im Freien zu leben, und zwar nach Möglichkeit alleine. Nur die Mücken und die Ratten sind sehr lästig, der Müll ringsum zieht sie an. Und so kann man Nkamo zwar meist nicht sehen, wenn man ihn sucht, wohl aber riechen – er sprüht sich unentwegt mit einem Spray ein, das stark nach Zitronen duftet. Nach zwei Tagen Zusammensein riechen wir beide wohl so wie ein ganzer Limonenhain.

Arbeit hat er inzwischen immer mal wieder gefunden. Aber darüber will er sich nicht auslassen. Sein Blick schweift bei diesem Thema kurz hinüber zu den Eisenstangen. Er komme so durch, sagt er zum Abschied, er werde es schaffen. Sein Italienisch ist inzwischen sehr viel besser geworden; Umgang mit Einheimischen hat er also wohl schon.

Ahalla lebt inzwischen gute dreihundert Kilometer weiter östlich, in der Nähe von Villa San Giovanni, in Kalabrien, dort, wo die Schiffe nach Sizilien übersetzen. In diversen Fischverarbeitungsfirmen ist er wegen seines Fleißes sehr geschätzt, bei der Rückfahrt brauche ich nur wenige Minuten, mich zu ihm durchzufragen. Er arbeitet 12 Stunden pro Tag. Und trotzdem: Viel Lohn bleibt ihm nicht, „sind Ausbeuter“. Aber was soll er machen: „Ist wenigstens keine kriminelle Arbeit.“ Denn seine größte Angst ist, daß er „mal erwischt wird und dann auch noch Diebstähle oder Raubüberfälle auf dem Kerbholz haben“ könnte: „Dann wäre derTraum aus.“

In Bälde, hat die Regierung beschlossen, sollen die nach dem Einwanderungsgesetz vorgesehenen Immigrantenkontingente ausgewählt werden, denen Italien ein Bleiberecht geben will. Und da will er gleich zu Anfang dabeisein. Das Problem: Um den Status als regulärer Einwanderer zu bekommen, braucht er einen Arbeitgeber, der ihm einen Anstellungsvertrag gibt. Weshalb Ahalla nun all das, was er sparen kann, nicht wie versprochen seiner Frau und seinen sieben Kindern schickt, sondern beiseite legt – um damit im rechten Augenblick einen Arbeitgeber zu bezahlen, der ihm den Vertrag gibt. „Bißchen verkehrt im Kopf, die Welt, wenn der Arbeiter den Arbeitgeber bezahlt“, sagt er und lächelt dennoch glücklich bei der Vorstellung, am Ende das begehrte Dokument zu erhalten.

Das war im Juni, und fast zwei Monate war nichts mehr von Ahalla zu hören. Nkamo hatte sich einige Male gemeldet, aber aus Angst, daß das Telefon abgehört wird, sagte er nicht mehr, wo er steckt. Dann kommt wieder ein Anruf von Ahalla: Er sei nicht mehr in San Giovanni, sondern auf Lipari, einer der Äolischen Inseln vor Ostsizilien: Arbeit habe er in einem Bimssteinwerk bekommen. Er hustet stark – der Staub dort verursacht nicht selten tuberkuloseartige Veränderungen der Lunge. Aber er ist guter Dinge. Er hat auch etwas von Nkamo gehört – der läge in einem Krankenhaus bei Catania im Osten Siziliens. Was ihm fehlt, weiß er nicht, „aber er klang ziemlich trübe“. Ob ich den Freund nicht besuchen könne, wenn ich nach Lipari käme?

Es läßt sich machen. Nkamo liegt wirklich arg danieder. „Dem haben sie so ziemlich alles kaputtgeschlagen, was er an Knochen hat“, sagt der behandelnde Arzt. „Wissen Sie vielleicht, wie der Mann heißt?“ Ich weiß es natürlich genausowenig wie sonst jemand. Ein Polizist schaut alle paar Tage vorbei und fragt, ob er vernehmungsfähig sei, und ebenso regelmäßig sagt Nkamo, er sei noch sehr schwach, er wisse nur, daß er irgendwo eine Treppe hinuntergefallen sei. Doch als der Arzt aus dem Raum ist und die acht Mitkranken im Zimmer gerade mal nicht herschauen, deutet er unter sein Bett: Da liegen, hinter zwei Pappkartons versteckt, drei seiner Eisenstangen. „Für alle Fälle“ flüstert er. Geld habe er noch immer keines, aber sobald er wieder auf den Beinen stehe, habe er einen großartigen Plan. „Ist mir wurst“, sagt er, als ich warnend das Zeichen vom Klauen mache, „hier bestiehlt ja auch jeder jeden.“ Er deutet hinüber zum Mann nebenan, einem Norditaliener: „Dem haben sie hier im Krankenhaus seinen Ehering vom Finger geklaut.“ Er werde sich melden, sobald er wieder genesen sei, vielleicht könne er mich ja besuchen.

Ahalla wartet am Kai von Marina Piccola auf Lipari, wo die Tragflächenboote anlegen. Er hat sich zum Empfang in seine besten Kleider geworfen – ein Hauch von Wohlstand scheint ihn berührt zu haben. Nur der Husten quält ihn. Wenig später zeigt er hinauf zu den Bimssteinbrüchen, wo mächtige Bulldozer in vierhundert Meter Höhe das schneeweiße pulverige Gestein abkratzen und über die Bruchkante schieben, so daß es auf halber Höhe fast direkt in die Trichter fällt und gemahlen werden kann: Rohmaterial für Quader, die man beim Bau erdbebensicherer Häuser benutzt. Einen solchen Bulldozer wie den da oben möchte Ahalla auch einmal fahren, nicht nur unten in den Staubwolken Einfüllarbeit leisten, und dann vielleicht gar so ein Gerät sein eigen nennen, als selbständiger Unternehmer.

Auf der Rückfahrt soll ich Nkamo noch einmal im Krankenhaus besuchen, Ahalla hat mir einen Fünfzigtausend-Lire-Schein für ihn mitgegeben. Doch Nkamo ist nicht mehr da. „Bei Nacht und Nebel ausgebüchst“, sagt der Stationsarzt resigniert, „mit drei Brüchen und einem halben Dutzend Stauchungen. Zähe Kerle, das.“ Er kennt diese Fälle – Menschen wie Nkamo hauen ab, bevor die Polizei sie wieder ins Lager bringt.

Dann kommt der Stichtag. In ganz Italien füllen sich die Präfekturen mit Menschen aus Afrika, Asien, dem Balkan. Es gibt Schlägereien um die Reihenfolge des Einlasses, überforderte Ämter, ratlose Politiker. Ahalla hat alle Dokumente dabei, die das Gesetz verlangt, seinen vorher versteckten Reisepaß hat er herausgezogen, der Name stimmt mit dem Arbeitsvertrag überein, den ihm ein Restaurantbesitzer für ein ansehnliches Bestechungsgeld ausgestellt hat. Berufsbezeichnung: „Hilfskellner“.

Zehn Stunden später kommt er aus dem Amt. Weinend und unfähig zu begreifen. Der Beamte hat ihm erklärt, daß seine Dokumente zwar korrekt und ausreichend seien, der Vertrag überprüft und für echt befunden. Nur: Für sein Land sieht Italien die Immigration von lediglich 200 Personen pro Jahr vor. „Und die“, hatte der Beamte gesagt, „haben wir bereits zehnmal voll.“