Sanfte Jungs in Huntlosen

An vier niedersächsischen Schulen wird das Projekt reflexive Koedukation als Modell erprobt. Eine Unterrichtsstunde pro Woche bleiben Jungen und Mädchen unter sich  ■ Von Anja Dilk

„Hi, Mädels“, ruft Lehrerin Maria Wigger ihrer Klasse zu. Bessi und Lise, Chrissi und Neele, Kathi und Josi stellen sich im Kreis auf. Neele tritt einen Schritt nach vorne, stampft mit rudernden Armen von einem Bein aufs andere und skandiert: „Ich bin, ich bin, ich bin Neele“. Lauter, lauter. Aus dem Bauch atmen. „N-eeee-l-e“. Jaa! Eine nach der anderen muß nach vorn. Dann packen sich alle wie ein Baseballteam an den Schultern, schließen den Kreis und brüllen: „Wir sind, wir sind, wir sind die Igelmädels.“

Mittwoch morgen in der Grundschule von Huntlosen, einem Dorf in der Nähe des niedersächsischen Oldenburg. Mädchenstunde in der 3b. Seit gut einem Jahr gehört für die Kids der dritten Klasse eine Stunde Unterricht pro Woche ohne das andere Geschlecht zum Alltag. Mittwochs sind die Mädchen 45 Minuten lang unter sich, donnerstags die Jungen. Zeit für die Mädchen, um mehr Selbstbewußtsein zu entwickeln: Wir Mädchen sind auch groß und stark und laut und tough. Zeit für die Jungs, mehr Sensibilität und Körperkontakt zuzulassen.

„Das ist für die Jungen mindestens so wichtig wie für die Mädchen“, meint Klassenlehrer Jens Illgen. „Wir wollen keine weiblichen Jungen formen oder männliche Mädchen“, erläutert Maria Wigger, „sondern die Perspektive für das andere Geschlecht öffnen.“ In den Mädchen- und Jungenstunden sollen die Kids lernen, daß es nicht nötig ist, den Geschlechtsstereotypen bedingungslos zu folgen.

Doch mindestens so wichtig wie der getrennte ist der gemeinsame Unterricht. Reflexive Koedukation nennt sich der Ansatz, der in Huntlosen seit dem Schuljahr 97/98 erprobt wird. Die Grundschule ist eine von vier Schulen in Niedersachsen, die im Modellversuch „Soziale Integration in einer jungen- und mädchengerechten Grundschule“ neue Wege der gemeinsamen Beschulung erproben.

Denn längst ist klar, daß die gepriesene Koedukation weniger hält, als sie verspricht. Bis Anfang der achtziger Jahre galt der gemeinsame Unterricht als der pädagogische Fortschritt, der Mädchen bessere Bildungschancen verschaffe und die Gleichheit der Geschlechter garantiere. Doch dann stellten sich Zweifel ein. 1987 fand eine Studentinnen-Befragung heraus, daß 40 Prozent der Informatik- und Chemiestudentinnen an nordrhein-westfälischen Hochschulen auf eine Mädchenschule gegangen waren – obwohl nur 4 Prozent aller weiterführenden Schulen Mädchengymnasien sind. Als internationale Untersuchungen und eine Studie des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung von 1993 bestätigten, daß Mädchen und Jungen in gemischten Klassen unterschiedlich behandelt werden, stand die Koedukation endgültig auf dem Prüfstand. Von einem „pädagogischen Rohrkrepierer“ sprach 1996 die Weltwoche. „Zurück zur Mädchenschule“, titelte der Spiegel. Koedukation ist kein Auslaufmodell, Mädchen dürfen nicht in Watte gepackt werden, sondern müssen lernen, gegen die Männerkonkurrenz wie später im Berufsleben zu bestehen, gab der Deutsche Lehrerverband zurück.

Ein Zurück zur braven Trennung preist freilich kaum einer ernsthaft. „Wir müssen dem heimlichen Lehrplan in den Schulen in möglichst jungen Jahren etwas entgegensetzen“, sagt Astrid Kaiser, Professorin für Didaktik des Sachunterrichts an der Universität Oldenburg, die das niedersächsische Modell aus der Taufe gehoben hat. Modellversuche sprießen seit Anfang der 90er Jahre aus dem Boden. Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz, Hamburg und Nordrhein-Westfalen (NRW) erproben zeitweise getrennten Unterricht. In den neuen NRW- Richtlinien für die gymnasiale Oberstufe und die Sekundarstufe I der Gesamtschulen wird ab 1999 die reflexive Koedukation aufgenommen. Prinzip: soviel Koedukation wie möglich, soviel getrennter Unterricht wie nötig.

Gemeinsam ist diesen Ansätzen: Sie setzen meist auf getrennten Unterricht in Fächern wie Physik und Chemie; sie beziehen sich auf weiterführende Schulen. „Eine monoedukative Unterrichtung fördert Klischees (,Mädchenphysik‘)“, befürchtet Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Ohnehin lasse sich getrennter Unterricht nicht finanzieren, kritisiert der Philologenverband.

Das niedersächsische Modell setzt auf gemeinsamen Unterricht mit differenzierten Zielen. Im „kommunikativen Sachunterricht“ lernen Mädchen und Jungen Geschlechtsperspektiven im Umgang mit Sachthemen kennen. Bei der Mäusezucht etwa müssen die Jungen die Mäuse pflegen und füttern, die Mädchen legen am PC Dateien mit Mäusenamen an.

Noch ist das Projekt in der Erprobungsphase. Bis zum Jahr 2000 sollen die Curricula für die Klassen 1–4 stehen. Im Frühjahr wird ein Zwischenbericht Bilanz ziehen. „In jedem Fall“, meint Maria Wigger „hat das Projekt bei den Lehrern den Blick für geschlechtsspezifische Prägungen im Schulalltag enorm geschärft.“ Daß ein derartiger Ansatz die Geschlechterwelt auf den Kopf stellen kann, erwartet niemand. „Jedes Geschlecht wird auf seine Weise gefördert und behindert“, sagt Projektleiterin Kaiser, „und mit unserem Modell können wir vielleicht etwas Ausgleich schaffen.“