Das Unbehagen an einem Kampfbegriff

■ Die Grünen haben die doppelte Staatsbürgerschaft ideologisiert und damit zur Gretchenfrage der Reform gemacht. Das rächt sich nun

Keine Frage, die Kampagne der CDU/CSU gegen die erleichterte Einbürgerung ist ein Appell an niedere Instinkte, eine Mobilmachung der deutschen Angst, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein. Darüber sollte allerdings nicht vergessen werden: Geburtshelfer der Unionskampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft sind die Bündnisgrünen. Ohne deren Überhöhung der Bedeutung der doppelten Staatsbürgerschaft für die Integration der Einwanderer wäre die derzeitige Aufregung kaum denkbar.

Im Juni 1996 teilte der Bundesvorstand der Bündnisgrünen mit: „Die doppelte Staatsbürgerschaft ist der einzige Weg zu gesellschaftlicher Integration und rechtlicher Gleichstellung.“ Ein dummer Satz. Zum einen spricht er Einwanderern die Möglichkeit und Fähigkeit zur Integration ab, solange sie nicht im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft sind. Zum anderen ignoriert er, daß es zur vollen rechtlichen Gleichstellung in der Bundesrepublik nur eines Passes bedarf – des deutschen.

Dieser gedankliche Kurzschluß war die bündnisgrüne Antwort auf eine Initiative von 150 CDU-Politikern zur Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes. Die CDUler forderten die deutsche Staatsbürgerschaft für in Deutschland geborene Kinder und einen Rechtsanspruch für alle Einwanderer auf Einbürgerung nach zehn Jahren. Keine schlechte Forderung. Sie gibt den Kern, um den es bei einer Reform geht, wieder.

Einmal mehr demonstrierten die Bündnisgrünen, daß es beim Streit um die doppelte Staatsbürgerschaft nicht nur um die Diskussion geht, wie das Einwanderungsland Deutschland vom Kopf auf die Füße zu stellen ist und zum Nutzen aller am sinnvollsten politisch auszugestalten ist.

Die Verfechter und Gegner der doppelten Staatsbürgerschaft spielen das gleiche Spiel. In ihrem Gezänk droht stets das Wesentliche unterzugehen, worauf es bei einer Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes ankommt: Die Ergänzung des Abstammungsprinzips durch das Territorialprinzip, das Geburtsort und langfristigen Wohnsitz berücksichtigt. Mit dem Abschied von den völkischen Grundlagen dieser Republik geht es um nicht weniger als die Frage, was Deutschsein in Zukunft bedeutet und welches kulturelle Selbstverständnis dieses neue Deutschland entwickeln wird. Das ist nicht wenig. Angesichts der real existierenden Verhältnisse in Deutschland Ost und West wäre dies ein Quantensprung.

Der Streit um die doppelte Staatsbürgerschaft trägt Züge eines deutschen Familiendramas. Die Konservativen klammern sich mit der Verzweiflung eines Ertrinkenden an ein ethnisch definiertes Staatsangehörigkeitsrecht. Für sie ist es eine Horrorvorstellung, daß künftig Araber, Türken und Asiaten über sie richten, sie verhaften oder regieren könnten. Von einem universalistischen Menschenbild und einem zeitgemäßen Staatsbürgerschaftsbegriff ist diese Einstellung Lichtjahre entfernt. Ebensoweit wie die Motive, die viele zu entschiedenen Befürwortern der doppelten Staatsbürgerschaft werden läßt. Letzteren gilt sie vor allem als Garant, der die ethnische Identität der einzubürgernden Minderheiten sichert und sie vor Zwangsgermanisierung (Assimilation) schützt.

Leichtfertig wird übersehen, daß die Ideologisierung der doppelten Staatsbürgerschaft durch die Hintertür genau das fortschreibt, was man mit einer Reform des Staatsangehörigkeitsrechts auflösen möchte – die Konzentrierung auf die Ethnie. Die Blindheit vor diesem Widerspruch fortschrittlichen Denkens läßt sich wahrscheinlich nur mit den Bewältigungsversuchen der jüngeren deutschen Geschichte erklären. Für Ethnizismus kann man sich erwärmen, solange er nur kein germanischer ist. Fazit: Der Apfel ist nicht weit vom Birnbaum gefallen.

Seit zehn Jahren beharren die Grünen auf einer Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes plus doppelte Staatsbürgerschaft und haben damit viel zur Verflachung der Diskussion beigetragen. Spätestens seit dem „Referendum doppelte Staatsbürgerschaft“ des Jahres 1993, bei der unter tatkräftiger publizistischer Hilfe der taz eine Million Unterschriften gesammelt wurden, glauben nicht wenige, das doppelte sei der eigentliche Kern der Reform. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist damit zu einem ideologischen Kampfbegriff verkommen. Und viele, die sie gebetsmühlenartig fordern, haben Mühe zu begründen, was das Segensreiche daran sein soll.

Zur Auffrischung des Gedächtnisses ein paar Hinweise: Die doppelte Staatsbürgerschaft kam Ende der achtziger Jahre in die Diskussion, nachdem aufgrund diverser Untersuchungen bekanntgeworden war, daß viele Türken gerne deutsche Staatsbürger würden, wenn sie denn ihren alten Paß behalten könnten. Den Einwanderern aus der Türkei die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft schmackhaft zu machen, war ein wichtiger Auslöser der Diskussion.

Die Zugeknöpftheit der türkischen Einwanderer, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, hatte verschiedene Gründe. Viele fürchteten, von ihren Landsleuten als Vaterlandsverräter stigmatisiert zu werden, wenn sie ihre türkische zugunsten der deutschen Staatsbürgerschaft aufgäben. Nur deshalb die doppelte Staatsbürgerschaft zu fordern, weil die Übernahme der deutschen Staatsbürgerschaft als Verrat der kulturellen Wurzeln gilt, hätte natürlich gerade den Linksliberalen zu denken geben müssen. Ein fortschrittliches Motiv, sich leidenschaftlich für die doppelte Staatsbürgerschaft einzusetzen, ist dies nicht. Denn schließlich sollte die Staatsbürgerschaft ein politischer Vertrag sein, der in keinem genetischen Zusammenhang mit den kulturellen Wurzeln stehen muß.

Blieben als gewichtiges Argument für die doppelte Staatsbürgerschaft die rechtlichen Nachteile, die vor allem Türken hinnehmen mußten, wenn sie deutsche Staatsbürger wurden und zur Aufgabe ihrer alten Staatsbürgerschaft gezwungen waren. Seit im Juni 1995 das türkische Staatsangehörigkeitsgesetz geändert wurde, spielt das keine Rolle mehr. Seitdem gilt, daß ehemalige türkische Staatsbürger und deren gesetzliche Erben unverändert die Rechte ausüben können, die ansonsten nur türkischen Staatsangehörigen in Angelegenheiten wie der Niederlassung im Inland, der Reisefreiheit, der Ausübung einer Beschäftigung, der Erbschaft und des Grunderwerbs zustehen.

Sicher ist: Deutschland braucht eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes. Dringend. Aber es braucht nicht um jeden Preis die gesetzlich legitimierte doppelte Staatsbürgerschaft. Zumal die doppelte Staatsbürgerschaft längst gängige Praxis ist. In Deutschland leben derzeit zwei Millionen Doppelstaatler, meist Kinder aus binationalen Ehen. Und seit 1994 wird jede dritte der jährlich rund 300.000 Einbürgerungen unter der Hinnahme der alten Staatsbürgerschaft ausgesprochen. Und die Mehrheit der eingebürgerten Türken besitzt beide Pässe, den deutschen und den türkischen.

Einige Gründe gibt es allerdings, sich dennoch für die doppelte Staatsbürgerschaft einzusetzen. Zunächst die Tatsache, daß nicht alle Einbürgerungswilligen in der komfortablen Situation der türkischen Staatsbürger sind. Zum Beispiel verlieren Deutsche, die die türkische Staatsbürgerschaft annehmen, mit dem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit all ihre Rechte in der Bundesrepublik.

Auch die Befindlichkeiten der Einbürgerungswilligen sprechen für die doppelte Staatsbürgerschaft. Für diese sind Herkunft und Ethnizität offensichtlich wichtige Gefühlskonstanten. Dies um so mehr, als die Dynamik der rassistischen Übergriffe in den neunziger Jahren Zweifel daran aufkommen lassen, wie es die Mehrheit mit der Einhaltung politischer Verträge hält.

Die Kampagne der Union trägt wenig dazu bei, das Vertrauen auf ein gleichberechtigtes staatsbürgerliches Zusammenleben zu stärken. Ein Zusammenleben, das die für alle geltenden verfassungsrechtlichen Grundsätze zum Fundament hat, auf dem sich vielfältige kulturelle Lebensentwürfe entfalten können.

Aber all diese Gründe sind nicht gewichtig genug, um die doppelte Staatsbürgerschaft zur Gretchenfrage der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes zu machen. Eberhard Seidel-Pielen