Die Friedhöfe an der Drina

Die Brücke über der Drina verbindet Orient und Okzident. Ivo Andric überquerte die Bücke als Junge täglich. Er hat ihrer konfliktreichen Geschichte ein literarisches Denkmal gesetzt und die nachbarlichen Schrecken der jüngsten Vergangenheit vorausgesagt. Eine Reise ins bosnisch-serbische Visegrad der Nachkriegszeit an die literarischen Wurzeln von Nobelpreisträger Ivo Andric  ■ Von Gerd Schumann

Divna Vasic, serbische Literaturprofessorin, öffnet eine verwitterte Holzpforte, Eingang zu Visegrads jüdischem Friedhof knapp unterhalb der Hügelkuppe am linken Drina-Ufer, also Richtung Belgrad. Wir stapfen lautlos durch feuchtes Gras, Lottikas Grab suchend, einer der beiden starken Frauenfiguren aus Ivo Andric' schillernder Visegrader Chronik „Die Brücke über die Drina“, für die er 1961 als erster und einziger Jugoslawe den Literaturnobelpreis erhielt: „Für die epische Kraft, mit der Sie Motive und Schicksale aus der Geschichte Ihres Landes gestaltet haben“, so ein Teil der Begründung des Komitees.

Friedhöfe erzählen überall Geschichte. „Lotticelerna 15.11.1938“ steht auf der steinernen Platte. Die 43jährige Divna, trotz elender Umstände immer penibel auf ihr elegantes Äußeres achtend, freut sich über den unvermuteten Fund. Sie geht davon aus, daß es sich tatsächlich um die gesuchte Ruhestätte der Lottika handelt, jene mit vielen Wassern gewaschene, zähe und schöne Jüdin, über die Andric in einer seiner trefflichen Charakterminiaturen bemerkte, sie hätte andernorts und zu anderer Zeit mit Sicherheit Geschichte gemacht.

Die engen Verhältnisse im kleinen bosnischen Visegrad um die Jahrhundertwende ließen es nicht zu, und also begnügte sich Lottika mit der Leitung des „Hotels zur Brücke“, das im Volksmund nur „Lottikas Hotel“ hieß. Umsichtig hielt sie ihre rauhbeinigen männlichen Gäste in Schach und durchlebte also die gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüche, Aufstieg und Niedergang der austrisch-ungarischen Besatzungsmacht, lediglich an der balkanischen Peripherie.

Nun eilt aufgeregt rufend ein Mann herbei, dunkelblaue Arbeitsjacke und grobleinene Hose. Slobodan Trifkovic, Jahrgang 37, tritt dem unangemeldeten Grabbesuch zunächst mißtrauisch gegenüber, um dann zu erklären, daß er während des ganzen Krieges diesen „schönsten Friedhof Visegrads“ bewacht und gegen marodierende Banden verteidigt habe. Warum gerade er? Juden und Serben hätten vergleichbare Schicksale, meint Trifkovic. Schon „zur Türkenzeit“ habe es Pogrome gegen sie gegeben, dann seien beide im Ersten Weltkrieg verfolgt worden und schließlich 1941 nach dem deutsch-kroatischen Überfall zusammen im Ustascha-KZ Jagenovac gelandet. Aus Visegrad sei damals die gesamte jüdische Bevölkerung verschleppt worden, und nur wenige Familien kehrten nach der Befreiung zurück. „Ich habe mich also entschieden, den Friedhof zu ehren“, erklärt Trifkovic inbrünstig, und daß er vor seinem Tod einen Nachfolger für diese Aufgabe finden werde. Wir erfahren dann noch, daß er persönlich seinen größten, niemals zu bewältigenden Schmerz erlitt, als sein Sohn Latko im Bürgerkrieg von Muslimen ermordet wurde. Vorher habe er mit seinen muslimischen Nachbarn jahrzehntelang gut zusammengelebt, aber „solche Freunde brauche ich nie mehr“.

Schemenhafte Gestalten stehen hinter einem Erdwall auf Forken gestützt um flammenlos brennendes Buschwerk, noch naß, wie die dicke Rauchsäule signalisiert. Wir passieren Visegrads kroatischen, also katholischen Friedhof, in dessen Erde seit der kriegsbedingten Potenzierung der Sterberate auch serbische Tote beerdigt wurden. Der Gottesacker erstreckt sich über einen Abhang am linken Ufer des prächtigen Drina-Flusses und muß um die Jahrhundertwende herum entstanden sein.

Einige kroatische Familien waren als Ergebnis der Berliner Konferenz, nach der sich das Osmanische Reich nach fast vierhundert Besatzungsjahren zurückziehen mußte, mit dem habsburgischen Verwaltungsapparat 1878 in die Stadt gekommen. Darunter auch der aus Ungarn stammende Ivan Matovcek mit Ehefrau Anna, Schwester von Ivos kroatischem Vater. Das kinderlose Paar wohnte nur wenige Schritte unterhalb des Friedhofs. Die lateinische Schrift auf ihrem grünverspannten Grabstein ist kaum noch zu entziffern.

Das Wohnhaus, in dem der kleine Ivo bis 1903 lebte, gehört heute einer muslimischen Familie, die 1992 nach Schweden flüchtete. Liebend gern hätte die Stadt Visegrad schon vorher aus dem zwar unscheinbaren, aber kulturhistorisch wertvollen Gebäude ein Andric-Museum gemacht, doch seien die Verhandlungen immer am Preis gescheitert. Also blieb Fatima Ploskic, eine frühere Kollegin von Divna Vasic, bis heute und auch im Exil Besitzerin des Hauses. Ihrem Bruder gehört der Neubau im Garten, der nunmehr den Blick von Ivos Kinderzimmer hinaus auf die Brücke versperrt.

Das mächtige steinerne Bauwerk spannt sich „weiß und leicht auf ihren elf Bögen ungleicher Größe“ über die Drina und hebt sich „wie eine wunderbare Arabeske vom grünen Wasser zwischen den dunklen Bergen“ ab. Allmorgendlich überquerte der Junge die kopfsteingepflasterte Brücke, ging am ockerfarbenen Hotel und den beiden Moscheen mit ihren schlanken Minaretten vorbei, schnupperte tausend Düfte in einer der vielen Garküchen links und rechts der Hauptstraße und erreichte schließlich die Schule, die er bis zu seinem elften Lebensjahr besuchte. Die Brücke wurde zum Schicksal dieses blassen, schmächtigen, häufig kränkelnden und immer etwas traurig blickenden Jungen. Indem er ihre Biographie durch fast vier Jahrhunderte zurückverfolgte, schrieb der introvertierte Denker die Geschichte Bosnien-Herzegowinas. Die Geschichte eines meist von fremder Herrschaft besetzten und häufig blutig umkämpften Übergangs vom Orient zum Okzident.

Als der Bürgerkrieg tobte, malte Branko Nikitovic ein Brückenbild, auf dem das zweite Ufer fehlte. Jetzt steht der Künstler, Markenzeichen langer zotteliger Bart, Pferdeschwanz und Schlabberhose, im Erdgeschoß des städtischen Kulturhauses unweit von Ivos ehemaliger Schule. Nikitovic hofft darauf, Visegrads Gemäldesammlung von derzeit 160 Exponaten in absehbarer Zeit auf fünfhundert erweitern zu können. Das kulturelle Leben habe einen recht stolzen Aufschwung genommen, meint der Mittvierziger, der früher in Sarajevo und Prag studierte.

Vor dem Kriege habe sich kulturell kaum etwas getan, die kleine Künstlerszene sei zersplittert und den politischen Extremen gegenüber hilflos gewesen. Ausstellungsräume gab es nicht, seine eigene Werkstatt in einem der Brückenbögen sei gescheitert, bis dann 1995 diese städtische Einrichtung geschaffen wurde. In den vergangenen beiden Jahren habe sich die „Internationale Künstlerakademie“ weit über Visegrad und Bosnien hinaus einen Namen gemacht, erzählt Branko, und daß Peter Handke die Galerie zweimal besucht habe: „1996 und 1997 war das, und er hat mein Aquarell zum Thema ,Brücke' mitgenommen, ein Symbol in einer Zeit, in der mehr Brücken zwischen den Menschen gebaut werden müßten.“

Ob der Erzähler Handke auch die nach dem Erzähler Andric benannte Bücherei im ersten Stock aufsuchte, weiß weder der Maler Nikitovic noch gibt der Schriftsteller selbst Auskunft in seinem „Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise“, der einfühlsam Eindrücke eines seiner Visegrad-Aufenthalte einfängt. Handke beschreibt darin auch seine vergeblichen Bemühungen, tragischen Berichten über Kriegsgreuel auf die Spur zu kommen. Von der breiten „Kapija“ in der Brückenmitte seien Muslime in den reißenden Fluß hinabgestoßen worden, hieß es damals in der New York Times – eine „Witnesses said“-Veröffentlichung von recht dünner Quellenlage, sich meist stützend auf Aussagen inzwischen nicht mehr Auffindbarer.

Tatsache ist, daß im Nachkriegs-Visegrad zwar genauso viele Menschen wie 1992 leben, darunter jedoch kein einziges Mitglied der damaligen muslimischen Bevölkerungsmehrheit. Sie flüchtete, wie anderswo Serbinnen und Kroaten, und die auf der Strecke gebliebenen Opfer waren hier wie dort kaum zu zählen, da in den fürchterlichen Wirren nur die jeweils dominierende Ethnie ihre Toten am Ort beerdigen konnte. Auf dem serbischen Soldatenfriedhof rechts der Drina finden wir 75 Gräber aus jüngster Zeit. Zwar soll es auf dem unzerstörten muslimischen Friedhof am Ortsausgang in Richtung Sarajevo ebenfalls frische Gräber geben, doch suchen wir vergeblich.

Was war aus der hochgewachsenen Muslimin Hazira Kapidzija geworden, die 1991 die Ivo-Andric-Bibliothek leitete? Ihre serbische Nachfolgerin, Stojka Mijatovic, berichtet uns, Hazira hätte sich während des Krieges telefonisch bei ihr aus dem Ausland gemeldet und erzählt, daß sie dort geheiratet habe. Uns beruhigt die Auskunft der 46jährigen Pädagogin, einer forschen Frau, die auf unseren Besuch zunächst mehr als vorsichtig reagiert hatte. Die wenigen Medienvertreter, die in den vergangenen Jahren den Weg in die Stadt fanden, hätten nie die Wahrheit geschrieben. Deren erste Frage habe jedesmal muslimischen Büchern gegolten, sagt sie, und zeigt uns unaufgefordert eine recht umfangreiche Jugoslaveska-Sammlung aus slowenischer, kroatischer, mazedonischer, natürlich auch serbischer Literatur sowie eine spezielle Andric-Ecke mit dessen Werken in vielen Sprachen und diversen Ausgaben.

Irgendwann taut Stojka Mijatovic auf und bestätigt unbewußt Peter Handkes Erfahrung, wonach der serbische Argwohn leicht zu überwinden sei. „Zu überwinden? Nein, er fällt schlicht von ihnen ab in dem Augenblick, da wieder sichtbar wird, daß hier einer – wenn schon nicht mit gutem, so doch wenigstens nicht mit ganz bösem Willen in ihre Gegend gekommen ist...“

Stojka Mijatovic erzählt von ihrem serbischen, zwischen zwei muslimischen Dörfern gelegenen Ort Donja Lijeska, und daß sie ihr angesehener Vater Zeit seines Lebens vor den Muslimen gewarnt habe, sie selbst sich jedoch nicht darum kümmerte und in ihrer Überzeugung, ein gemeinsames friedliches Miteinander aller Völker sei möglich, der kommunistischen Partei beitrat. Doch habe sie der Krieg eines Besseren belehrt. Ihr Dorf sei fast vollständig abgebrannt. Ein Neffe tot. Zwar vergesse sie nie, daß die Ereignisse tragisch für beide ethnischen Gruppen gewesen seien, sagt aber auch in Anspielung auf den Dayton-Vertrag, daß es, „wenn uns wieder jemand zwingt, gemeinsam zu leben, irgendwann Krieg zwischen unseren Kindern“ geben werde.

Der jugoslawische Traum ist aus. Über den serbischen Gebieten Bosniens liegt ein Trauma, das der Jugoslawe Ivo Andric gefürchtet haben mag, als er die bosnische Geschichte in seinen Geschichten, Anekdoten, Porträts psychologisch scharfsichtig einfing.

Apokalyptisch anmutende Vorfälle an und auf der Brücke benutzte er als Gleichnisse auf manch bedrückende Zäsur von historischer Dimension. Detailliert schilderte er die grausame Pfählung des Serben Radisav auf Befehl des osmanischen Kommandanten im 16. Jahrhundert. Radisav fiel die Rolle eines Freiheitskämpfers zu. Er forderte die zur Fronarbeit gezwungenen Bauern zum Widerstand auf und riß nachts das tagsüber Gebaute wieder ein. Seine Taten und sein Tod wurden zum Mythos. Allerdings geriet in der direkten Vorkriegszeit um 1990 Radisavs Schicksal und „Die Brücke über die Drina“ unter den nationalistischen Interpretationshammer: Andric-Kritiker werteten das geschilderte Unterdrückungsverhältnis nun als ethnisches Gegeneinander.

Lange vor dem ersten Schuß im bosnischen Bürgerkrieg hatte der Nationalitätenkonflikt die Kunst und Kultur des Dreivölkergebildes erfaßt. Der römisch-katholisch getaufte Andric, 1892 im bosnischen Travnik als Sohn kroatischer Eltern geboren, wurde kurzerhand von muslimischer Seite zum Serben erklärt und verbannt. Das von Ivo Andric zitierte Lied über Fata Avdaga wurde nicht mehr gesungen. „Wie klug bist du, wie schön bist du, Avdagas schöne Fata.“

Ganz Bosnien kannte jenes melancholische Drama um eine junge Muslimin, die am unlösbaren Konflikt aus Selbstachtung und Fremdbestimmung scheiterte. Im persönlichen wie gesellschaftlichen Bewußtwerdungsprozeß zwischen feudaler Knebelung und individueller Freiheit stehend, sollte sie zwangsverheiratet werden. Der Vater hatte es so gewollt, doch die junge Frau stürzte sich in die Drina, als die Hochzeitsgesellschaft gerade die „Kapija“ erreicht hatte, woraufhin es – so Andric – noch am selben Abend ausgiebig und kalt regnete, so daß der Fluß anschwoll: „Am nächsten Tag warf das hochgehende, gelbe Wasser Fatas Leiche auf eine Sandbank bei Kalata.“ Symbolisches Bild für eine Umbruchzeit auch heute: Alle kennen zwar Avdagas Geschichte aus dem Drina- Buch, doch niemand mehr die Noten.

Andric-Expertin Vasic erzählt, was geschah, als die schon ewig „zerbrechlichen Zeiten“ zerbrachen. 1992 platzte die lang geplante 100. Geburtstagsfeier für Andric. Divna harrte nächtelang mit ihrem Sohn im Keller aus. Doch bereits zwei Jahre später seien wieder – „noch in kleinem Kreise“ – fünfzigste Jubiläen der Romane „Die Brücke über der Drina“, „Das Fräulein“ und „Wesire und Konsuln“ gefeiert worden. Auch habe der kroatische Bildhauer Ljupko Antunovic das Andric- Denkmal 1994 wiedererrichtet, das drei Jahre vorher vom fanatischen Moslem Murat Sabanovic per Vorschlaghammer geköpft worden war.

„Brücke Mechmed Pascha Sokolovic, erbaut 1571, schwer beschädigt durch die deutsche Besatzungsmacht 1943, renoviert 1949 bis 1952“, steht auf einer Tafel, die zur Wiedereröffnung der Brücke nach dem Zweiten Weltkriege angebracht wurde. An den Bürgerkrieg erinnert nichts – warum auch? Die Brücke steht schließlich wie eh und je. Doch wäre nicht eigentlich die Zeit längst reif dafür, Ivo Andric' Visegrader Chronik um drei Kriegskapitel und den Frieden zwischendurch zu ergänzen und die Ereignisse so zu verarbeiten?

Nur: Wer sollte sich heutzutage dort herantrauen? Wer sollte über die fünfhundert schwerbewaffneten „Grünen Barette“ des späteren Ministerpräsidenten Izetbegovic schreiben, die die Stadt terrorisierten? Wer über Angst und Schrecken, den die serbischen Freischärler verbreiteten, die auch Visegrads Moscheen dem Erdboden gleichmachten? Angesichts noch immer und schon lange offener Wunden existiert die Wahrheit auf keinem der Ufer der Drina. Und erst recht nicht im arroganten Okzident.

Bleibt das Andric-Original. Paradoxerweise beansprucht heute im säuberlich sezierten und willkürlich aufgeteilten Bosnien jede Ethnie den jugoslawischen Schriftsteller und sein Werk für sich – Andric als Serbe, Kroate, Muslim, was immer und in welcher Sprache, ob in kyrillischen oder in lateinischen Schriftzeichen. Vor 19 Jahren legte Divna Vasic ihr Diplom in jugoslawischer Literatur und serbokroatischer Sprache ab. Heute unterrichtet sie „serbische Literatur und serbische Sprache“. Befragt nach den Unterschieden zwischen Serbisch, Kroatisch und Muslimisch, antwortet die Professorin nicht. Oder doch: Sie lacht.

Gerd Schumann lebt als freier Journalist in Hamburg