Unvorstellbare Geschichte

Heute wird ein kleiner Platz in der Berliner Mitte in Bethlehemkirchplatz umbenannt. Mit ihm soll an das einstige Zentrum der böhmischen Flüchtlinge erinnert werden, die im 18. Jahrhundert in die Friedrichstadt kamen  ■ Von Jaroslav Sonka

Höre nur, der du Ohren hast, was sich heute tut! Gesang, Stimme, unser Klang und Klang neuer Glocken.“ „Unser Klang“ – das ist Tschechisch. Ein tschechisches Gedicht über die neuen, vom König geschenkten Glocken. Und weiter: „Gott segne Friedrich Wilhelm, von Gottes Gnaden König“.

Berlin 1735: Der Bau der böhmischen Kirche in der Gemeinde der Böhmischen Brüder ist fertig, die neuen Glocken und der Prediger Jan Liberda rufen die Schäfchen ins Gotteshaus. Für heutige Tschechen unvorstellbar, daß ihre Vorfahren einmal Segen für den preußischen König erbitten. Dazu gerade noch für den bösen Friedrich WilhelmI., der doch nur an Soldaten dachte und Freunde seines Sohnes köpfen ließ.

Die preußischen Herrscher waren sich in dieser Zeit klar darüber, daß sie produzierende Untertanen brauchten. Während ihre österreichischen Kollegen schauten, daß alle brav katholisch sind, wußten die Preußen, daß Macht nur dort entsteht, wo künftige Soldaten gezeugt werden, wo Stoff für ihre Uniformen gewebt und ihre Waffen geschmiedet werden – ganz zu schweigen vom Zahlen der Steuern. Aktiv riefen sie die Hugenotten, zahlten ihnen sogar Reisekosten, bauten ihnen ihre Kirchen, um sie an ihre Herrschaft zu binden. Unvorstellbar für heutige bayerische Politiker, daß man so denken kann und nicht in die Knie geht vor Überfremdungsangst.

Auch die protestantischen Böhmen wurden nach Preußen eingeladen. Sie waren nach dem Westfälischen Frieden vielfach in Europa unterwegs. Viele lebten in Sachsen, in einigen schlesischen Fürstentümern, wo sie nicht weit von zu Hause waren und mit der Heimat noch Kontakt hielten. Herrnhut, Neudietendorf entstanden.

Als sich dann insbesondere in Sachsen die Bedingungen für die böhmischen Emigranten verschlechterten, wurden die böhmischen Dörfer Nowawes, Rixdorf, Schöneberg, aber auch die Siedlung um die Wilhelmstraße in Berlins Mitte gegründet oder ausgebaut. In Rixdorf und Potsdam sind die „böhmischen Weber“ noch immer ein Bestandteil der Tradition, obwohl in Goebbels' Ohr „Nowawes“ unglaublich „unarisch“ klingen mußte. Und so sucht man die armen Weber heute in Babelsberg.

Von der Mutter von Jan Jenik, einem der späteren Berliner Prediger, sind einige Sätze überliefert, die eine gute Beschreibung der Lage der tschechischen Emigranten geben: „Als wir noch in Böhmen die Bibel in Löchern und Höhlen lasen, habe ich dem Herrn das Versprechen getan, daß ich mich mit trockenem Brot und einem Krüglein Wasser bescheiden werde, wenn ich nur das Abendmahl nach des Herrn Bestimmung empfangen kann. Jetzt haben wir ein Haus, eine Kirche, eine Schule.“ Unvorstellbar für Tschechen, heute nach Deutschland zu gehen – und dort zufrieden zu sein.

Die damaligen Tschechen waren gut integriert. Seit 1735 hatten sie in der Nähe der Berliner Machtzentrale auch ihre Kirche. Nach der Prager Bethlehemskapelle von Jan Hus wurde der Barockbau ebenfalls Bethlehemskirche genannt. Sie stand in der alten Friedrichstadt, nahe dem ehemaligen Checkpoint Charlie.

Die Predigten von Jan Jenik besuchte sogar der König, der anordnete, daß abwechselnd böhmisch und deutsch gepredigt werde. Jenik, von den Deutschen Vater Jänicke genannt, seit 1792 in der Friedrichstadt tätig, war schon ein Berliner Original. Es gibt über ihn eine Reihe von Geschichten, die meist mit der Verhöhnung seines religiösen Eifers beginnen, um schließlich mit der Bekehrung der Schandtäter zu enden. In einer seiner Predigten bemängelte er, daß einer der Weber sonntags „zu laut mit seinem Webstuhl klappert“. Und in seiner direkten Art nannte er auch die Adresse. Es war die Wilhelmstraße 108. Heute ist von der früheren Gestalt der Gegend nichts übriggeblieben. Wo jener Weber schändlicherweise am Sonntag arbeitete, hat sich später Hermann Göring sein Reichsluftfahrtministerium bauen lassen.

Auch das übrige Gebiet um die Wilhelmstraße veränderte sich rasch. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurden tschechisch sprechende Berliner als eine Rarität gezeigt. Wenigstens die Kirche blieb noch länger stehen, wurde im Krieg jedoch beschädigt und 1963 abgerissen. Der erste Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden hat sich mit solchen Kleinigkeiten nicht abgegeben. Und ein preußischer König, der in die Kirche böhmischer Emigranten geht und sie unterstützt, paßt nicht in die marxistische Geschichte.

An der Stelle der böhmischen Gemeinde stehen mittlerweile Glas- und Marmorfassaden. Allein ein Bodenmosaik zeichnet den Grundriß der Kirche nach. Und die neun Meter hohe Skulptur „House Ball“ der beiden Popkünstler Claes Oldenburg und Coosje van Bruggens zeigt ein Bündel mit dem Hausrat von Flüchtlingen. Heute wird das kleine Plätzchen, die Kreuzung der Mauer- und Krausenstraße, in Bethlehemkirchplatz umbenannt. Kaum jemand wird sich unter diesem Namen etwas vorstellen können.