Geliebte Irrtümer

Was wäre aus der KPD geworden, wenn...? Auf der Tagung der Rosa-Luxemburg-Gesellschaft in Berlin stellten die Forscher aus Ost und West auch die äußerste Frage. Schließlich gilt es nach dem langen Krieg der Fußnoten, sich in Ironie und Geduld zu üben  ■ Von Christian Semler

Jakov Drabkin, der zierliche alte Herr mit dem hochgezwirbelten, weißen Schnurrbart, sieht aus wie ein gut konservierter Kommissar aus Budjonnis Reiterarmee. Vor einer Generation hat er das Buch über die Novemberrevolution geschrieben, ein taktisch geschickter Rehabilitierungsversuch der deutschen Linksradikalen, zudem auch eine Flaschenpost, die bis an die Gestade der linken Studentenbewegung in West- Berlin gespült wurde.

Am letzten Wochenende war Drabkin einer der Referenten auf der Tagung der Internationalen Rosa-Luxemburg-Gesellschaft in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin. Zum Beweis seiner fortdauernden wissenschaftlichen Arbeit stemmt er den dicken Wälzer hoch, der soeben in Moskau erschienen ist: eine Dokumentensammlung zum Thema „Die Komintern und die Idee der Weltrevolution“. Darin enthalten sind neben vielem anderem Briefe, die Karl Radek, Rosa Luxemburg und Leo Jogiches um die Jahreswende 1918/19 an Lenin schrieben und die bislang überhaupt nicht oder nur fragmentarisch veröffentlicht worden sind.

Drabkin blickt unerschrocken in das große schwarze Loch, das sich im heutigen Rußland aufgetan hat und in dem „mit Hunderten von Wichtigtuern auch die besten Köpfe der Arbeiterbewegung verschwunden sind“. Ihm geht es nicht um Pietät, sondern um Verstehen, Kritik, Weiterarbeit an den großen Themen. Und keine Angst vor dem Dreiklang „Marxist, Kommunist, Revolutionär“, der heute so abscheulich in den Ohren klingt – und der Rosa Luxemburgs Leben bestimmte.

Der Kampf gegen das große schwarze Loch bringt an diesem Samstag eine seltsame Schar älterer Damen und Herren zusammen, die in der Regel seit Jahrzehnten die große Lichtgestalt Rosa umschwirren. Eine wirklich faszinierende Versammlung. Vereint sie doch wissenschaftliche Fans Rosas aus Ost und West, die sich so lange im Krieg der Fußnoten befehdeten. Damals, zu einer Zeit, als auf der östlichen Seite der Leninismus die eherne Norm bildete für die Beurteilung der „Fehler und Irrtümer“ des geliebten Forschungsgegenstandes. Und als auf der westlichen Seite Rosa, die unerbittliche Kritikerin des sozialdemokratischen Revisionismus, zur Humanistin, zur Vorkämpferin des „demokratischen Sozialismus“ um- und herunterinterpretiert wurde.

Alles ausgesprochen, alles vergeben? Das nun nicht gerade. Die wechselseitige Inanspruchnahme Rosa Luxemburgs zu Zeiten des Kalten Krieges harrt noch der Aufarbeitung, ist „Forschungsdesiderat“. Jetzt aber gilt es, den gemeinsamen Kampf gegen das allgemeine Vergessen zu organisieren. Den Korpus der Schriften wissenschaftlich zu sichern. Sich in Geduld und Ironie zu üben, nach Radek bekanntlich die Haupttugenden des Revolutionärs in der Flaute. Wie Narihito Ito, der Präsident der Luxemburg-Gesellschaft, auch er selbstironisch, erklärt, ist sein Verein keine politische „Massenorganisation“, sondern ein Netzwerk unabhängiger Geister, wo Spontaneität herrscht, selbst wenn Peking der Tagungsort ist (was er tatsächlich war).

Über der ganzen Vereinigung thront Annelies Laschitza. Seit den späten 60er und 70er Jahren war sie in der DDR maßgeblich an dem Manöver beteiligt, Rosa Luxemburg so nahe an Lenin heranzurücken, daß er für die Kirchenorthodoxie der SED kommensurabel wurde. Sie war es, die an der Wiege der kritischen Gesamtausgabe der Werke Rosas stand, und nicht zuletzt ihr hatte es das Lesepublikum der DDR zu danken, daß in den 70er Jahren die Generalabrechnung Rosas mit den Bolschewiki an der Staatsmacht im Rahmen der Werkausgabe erscheinen konnte. Schon damals rühmten Luxemburg-Liebhaber im Westen wie Iring Fetscher ihre Methode, die Streitfragen zwischen Lenin und Rosa um die Rolle der Partei, um die ausschlaggebende Bedeutung der proletarischen Massenaktion, um die nationale Frage und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (dem Rosa schroff ablehnend gegenüber stand) argumentativ nachvollziehbar zu machen. Auch die radikalen Studenten im Westen, fast alle fasziniert von Rosas Ideen revolutionärer Selbsttätigkeit und allesamt auf die SPD sehr schlecht zu sprechen („Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten“!), profitierten von Laschitzas Geschichtsschreibung, als sie sich über Massenkampagnen als „Kampfform“ den Kopf zerbrachen.

War es Taktik oder Überzeugung, die sie seinerzeit zu der Behauptung brachte, Rosa habe gegen Ende ihres Lebens die Auffassung überwunden, Freiheit sei stets die Freiheit des Andersdenkenden? Immerhin war sie ehrlich genug, in ihren (feurigen) Rechenschaftsbericht über das öffentliche Interesse an Rosa Luxemburg in Deutschland unter den an ihre Adresse gerichteten Kritiken auch folgende aufzunehmen: „Meine Selbstkritik hinsichtlich meiner Rolle in der Luxemburgforschung und -edition vor 1989 sei nicht genug extensiv und permanent.“ Schön, wenn wir letzten Samstag auch erfahren hätten, was ihre Antwort auf solche Fragen war.

Für alle, die außer an dem Kampf um Rosas „Erbe“ auch an der Aufhellung des historischen Kontexts interessiert waren, hatte der polnische Historiker Feliks Tych eine Überraschung auf Lager. Tych, dessen Ruhm auf die vollständige Edition der Briefe zwischen Rosa Luxemburg und ihrem Kampf- und zeitweiligen Lebensgefährten Leo Jogiches zurückgeht, sprach über das politische Verhältnis beider in den drei Jahrzehnten zwischen 1890 und dem Januar 1919. Tychs Ergebnis: Leo Jogiches, der Mann im Hintergrund, der leidenschaftliche Konspirator und Organisator, der kaum etwas veröffentlichte, überhaupt Schriftliches ungern aus der Hand gab – er war es, der Rosas Denken maßgeblich beeinflußte. Er schärfte schon früh ihren Blick dafür, daß nicht von Deutschland und seiner mächtigen sozialdemokratischen Partei, sondern vom Kampf des russischen Proletariats wesentliche Impulse für die sozialistische Revolution ausgehen würden. Und er munitionierte Rosas Abneigung gegen den „tatarischen“ Marxismus der Bolschewiki, deren Habitus ihm selbst so eng verwandt war. Jogiches, der im Osten wie im Westen Ungeliebte, der Geheimniskrämer, der eisenharte Org.-Kader, vor dem die Biographen zurückschreckten – wird er uns jetzt, nach Tychs nonkonformistischer Umwertung, ans Herz wachsen? Leo Jogiches und Rosa Luxemburg verstanden etwas von der Verknotung der Widersprüche in Rußland, vom „schwächsten Kettenglied“ (Lenin) weil sie Dialektiker waren, nicht in den Bahnen des friedlichen Evolutionismus dachten. Mit diesem Komplex beschäftigte sich auch Frigga Haug bei ihrer Lektüre von Rosas nach dem Sündenfall der SPD, der Zustimmung zu den Kriegskrediten, verfaßten Arbeit über die Krise der Sozialdemokratie, der berühmten Junius- Broschüre.

Scharfsinnig deckte sie auf, daß Rosa für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht linear eine ökonomische Ursachenkette aufmachte, sondern von einer „Zentralisationsachse“ sprach, um die sich die imperialistischen Widersprüche gruppierten. Diese Achse bildete Deutschland. Im Anschluß an Louis Althusser gebrauchte Haug zur Kennzeichnung dieses Vorgangs den Begriff der „Überdeterminierung“. Auch übersetzte sie Rosas wütende Angriffe auf die das Proletariat entwaffnende vaterländische Ideologie der SPD- Führung in die Begrifflichkeit gegenwärtiger Diskursanalyse. Ob allerdings Frigga Haugs These zutrifft, nach der humanitäre militärische Interventionen unserer Tage genauso entzaubert werden müßten wie seinerzeit die Humanitätsphrasen der SPD, steht auf einem anderen Blatt.

Wie stand es bei der Tagung überhaupt um die „Aktualität“ des Luxemburgischen Denkens? Im Referat des österreichischen Wissenschaftlers Fritz Weber wurde in einer etwas großflächigen, aber instruktiven Weise die Anwendbarkeit von Rosas Imperialismus-analyse auf die gegenwärtige Krise in Südostasien verhandelt. Ein weiteres Mal hörten wir von der Möglichkeit des großen, weltweiten Finanz-Kladderadatschs. Klar, Rosa hatte sich geirrt hinsichtlich der Möglichkeiten des Kapitals, immer weitere Regionen und Lebensbereiche zu durchdringen. Ist irgendwo die Schranke der Kapitalverwertung in Sicht, haben wir das unwiderruflich „letzte Stadium“ vor uns? Vielleicht. Aber was hülfe das, so Weber, wenn nicht nur die revolutionäre Arbeiterbewegung sich verabschiedet hat, sondern auch ihre alte Gegnerin, die reformistische?

Es blieb der abschließenden Publikumsdiskussion und den Beiträgen einiger „Jüngerer“ vorbehalten, auch ein paar kritische Fragen zu den Voraussetzungen des Luxemburgischen Denkens anzubringen. Waren die Massen je so „tugendhaft“, so revolutionär, wie Rosa sie gerne gehabt hätte? Woher nahm Rosa eigentlich ihre Gewißheit, daß in den Augenblicken krisenhafter Zuspitzung Massenaktionen die Führung entweder zum Handeln zwingen oder beiseite schieben würden? Ist das Vertrauen in die raschen Lernprozesse der Ausgebeuteten, wie es von Diskussionsteilnehmern als Kern des Luxemburgischen Optimismus gedeutet wurde, nicht naiv? Wieso, gab der Filmemacher und Historiker Klaus Gietinger spitz zurück: Haben die Massen denn nicht wirklich die Novemberrevolution gemacht?

Zum Schluß die verbotene, die wirklich interessante Frage, die schon der große Luxemburg-Biograph Peter Nettl aufgeworfen hat: Was wäre aus der KPD geworden, wenn Rosa, Karl und Leo nicht ermordet worden wären? Erfolgreicher Widerstand gegen die Stalinisierung und Aufbau einer selbständigen deutschen revolutionären Partei? Oder Rausschmiß, Verfolgung und/oder Emigration, schließlich ein Lehrstuhl für Rosa in Harvard? Eines bestimmt nicht: Anpassung.