■ Vorlesungskritik
: Gehirn und Geschichte

Eigentlich war der Traum schon längst ausgeträumt. Als der Glaube an die Technik noch ungebrochen war und die Naturwissenschaften sich als die Sieger der Geschichte wähnten, da versuchte manch ein Geistes- oder Sozialwissenschaftler, die Zukunftsfähigkeit seiner eigenen Disziplin durch den Rückgriff auf naturwissenschaftliche Modelle unter Beweis zu stellen. Bei den Historikern ging das Streben, das Fach zu einer „harten“ Wissenschaft zu machen, seit deren Gründung 1969/70 von der Universität Bielefeld aus. Die „historische Sozialwissenschaft“ häufte Theorie auf Theorie und begann einen Siegeszug durch die Fakultäten.

Doch auf die Idee, Geschichte ganz unmittelbar aus naturwissenschaftlichen Modellen zu deuten, kamen auch die Bielefelder nicht, zu ihrem und unserem Glück. Bis jetzt. Denn was ihr Vordenker Hans-Ulrich Wehler dieses Semester im Colloquium des Berliner „Zentrums für vergleichende Geschichte Europas“ vortrug, war nichts Geringeres als eine Gefühlsgeschichte aus dem Geist der Neurobiologie.

Schon daß sich der 67jährige Emeritus überhaupt des Themas „Emotionen“ annahm, durfte als kleine Sensation gelten. Schließlich hatte Wehler bislang den großen Strukturen von Wirtschaft, Gesellschaft und politischer Herrschaft den Vorzug gegeben. Daß Phänomene wie der Bismarck-Kult im Kaiserreich oder die Kriegsbegeisterung im August 1914 auch mit Gefühlen zu tun haben, ist ihm aber nicht entgangen. Ganze Heerscharen von Historikern haben sich gerade in jüngster Zeit damit beschäftigt.

Mit deren Erklärungsversuchen gibt sich Wehler aber nicht zufrieden. Die „eigene Lebenserfahrung“ sei dafür keine „methodisch belastbare Basis“, die Geschichtswissenschaft sei für die Analyse vom Emotionen „nicht von Ferne sachkundig genug“ – die Kunst, ganze Forschungszweige mit ein, zwei Sätzen zu vernichten, beherrschte Wehler schon immer virtuos.

Statt dessen greift der Bielefelder Großhistoriker auf das Urteil der Experten aus der Neurobiologie zurück. Seit er das Buch über „Die emotionalen Grundlagen des Denkens“ studiert hat, in dem der Schweizer „Guru der Schizophrenie- und Depressionsforschung“ die „Bilanz seines wissenschaftlichen Lebens“ gezogen habe, glaubt Wehler den Schlüssel zu einer „Geschichte der Emotionen“ gefunden zu haben.

Emotionen würden durch „Neurotransmittoren“ hervorgerufen, erklärte Wehler. Die Zuhörer waren ein wenig verblüfft, Wehler nicht über Max Webers Gesellschaftstheorie, sondern über Endorphine dozieren zu hören. Doch Wehler fuhr unbeirrt fort, zwischen dem 6. und 18. Lebensmonat würden im Gehirn „neuronale Hauptverkehrsadern eingeschliffen“, die sich im späteren Leben nur sehr schwer ändern ließen.

Spätestens an diesem Punkt nahm der Zweifel überhand. Wie läßt sich erklären, warum sich Wehler in seinem siebten Lebensjahrzehnt mit beachtlicher intellektueller Flexibilität dem für ihn neuen Feld der Neurobiologie zuwenden kann? Unter bestimmten Umständen, suchte Wehler diesen Einwand unter Verweis auf Erkenntnisse des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung zu entkräften, könne das Gehirn auch später noch „neue Wege aufbauen“.

So ganz überzeugt waren die Zuhörer trotzdem nicht. Wehler gehe es „weniger um eine Geschichte der Emotionen als um die Kontrolle der Emotionsgeschichte“, vermutete ein Diskutant wissenschaftsstrategisches Kalkül. Was naturwissenschaftlich erklärbar sei, wandte ein Antikenforscher ein, sei nicht historisch – denn es verändere sich nicht. Ralph Bollmann