Die Welt ausblenden

■ Schauspielhaus-Kantine: Der anarchistische Bankier von Fernando Pessoa

Das Abendessen im Bistro neigt sich dem Ende. Die beiden Herren, ein jüngerer und ein stadtbekannter einflußreicher Bankier, stehen auf, zahlen und wollen gehen. Da stellt der junge Mann die verhängnisvolle Frage, die beide noch für den Rest des Abends beschäftigen wird: „Übrigens, ich habe gehört, Sie sollen früher mal Anarchist gewesen sein?“

So beginnt die Erzählung Der anarchistische Bankier von Fernando Pessoa. Und so beginnt auch der Abend in der Kantine des Deutschen Schauspielhauses, wenn sich Edmund Telgenkämper und Wolf Aniol vor dem Tresen präsentieren, um das auf eine Bühne verbannte Publikum an ihrer Unterredung teilhaben zu lassen.

Der Bankier, so stellt sich heraus, war früher ein armer Schlucker – und überzeugter Anarchist. Er ist auch heute noch Anarchist – und steinreich. Paßt das zusammen? Ja, so legt der namhafte Schieber dar, gerade die konsequente Anwendung der „wahren anarchistischen Methode“ habe ihn dahin gebracht, wo er heute steht.

Im Laufe des Stückes setzt sich ein Mosaik zusammen, das erklärt, wie das Weltbild eines Gewinners entsteht. Anarchistische Ideale wie Freiheit, Gerechtigkeit, Chancengleichheit und die Gewaltfrage werden diskutiert. Dabei wird immer deutlicher, daß hohe Ideale in klaustrophobische Einsamkeit führen, daß eine gehörige Portion Welt ausgeblendet wird, wenn man den „moralisch richtigen“ Weg gehen und sich durchsetzen will.

Regisseurin Ina-Kathrin Korff hat die 1922 entstandene Erzählung des Portugiesen im Wesentlichen so belassen, die Dialoge lediglich gekürzt. Der Raum für diese deutsche Erstaufführung scheint naturalistisch, wird jedoch „von Elementen gestört, die einem die Optik verschieben“, so Korff.

„Der Stoff ist heute aktueller denn je“, erzählt Dramaturg Joachim Klement, und holt aus: „Wenn die CDU behauptet, sie habe 70 Millionen Deutsche befreit, dann zeugt das von genau derselben Ideologie, die anderen befreien zu können und zu müssen, die die Anarchisten auch drauf hatten.“ Wie kann man dazwischen – zwischen allen -ismen – noch Mensch sein? „Der Kapitalismus floriert heute wieder in seiner brachialsten Form“, moniert Klement und verweist auf die Wissenschaftstheorie: Dort habe man entdeckt, daß man die eigenen Prinzipien in Frage stellen müsse. Das gleiche stehe für die Basis unserer kapitalistischen Gesellschaft an. Pessoas Text legt hierfür einen Grundstein.

Gabriele Wittmann

Freitag, 5. Oktober, 21 Uhr, Schauspielhaus-Kantine