Todkrank durch Krach

Immer mehr Menschen klagen über Lärm. Doch nicht nur die Lebensqualität leidet unter der Umweltbelastung Nummer eins. 1.480 Menschen sterben jährlich in Deutschland an den Folgen von Krach  ■ Von Annette Jensen

Draußen ist es still. Seit zwei Stunden ist kein Flugzeug mehr gestartet – Nachtruhe. Die Menschen schlafen. Plötzlich beginnt es zu brummen, leise zunächst. Dann schwillt das Geräusch an, so, als ob eine Passagiermaschine auf dem nahegelegenen Rollfeld landet. Doch auf der Straße und auf dem Flughafengelände ist weiterhin nichts zu hören. Nur in einem Schlafzimmer dröhnt es jetzt mit einem Maximalpegel von 65 dB (A) (zur Berechnung siehe Kasten) – so, als ob bei gekipptem Fenster ein paar hundert Meter entfernt ein Jet aufsetzt.

Zweiunddreißig Mal pro Nacht dringen die Start- und Landegeräusche aus einem Lautsprecher ans Ohr der Schläferin, abgespielt von einer CD-ROM. Am nächsten Morgen wird sie ein Protokoll anfertigen – wie oft sie aufgewacht ist und ob sie sich frisch fühlt. Auch ihren Urin wird sie sammeln, damit der im Labor auf Streßhormone hin untersucht werden kann. Vierzig Nächte lang läßt sie die simulierten Flugzeuggeräusche über sich ergehen – im Interesse der Lärmforschung.

„Es war sehr schwierig, Versuchspersonen zu finden“, sagt Jan Harder, der in der Abteilung Wasser-, Boden-, Lufthygiene im Umweltbundesamt arbeitet. Sechzehn HamburgerInnen, die alle in der Nähe des Flughafens Fuhlsbüttel leben, waren schließlich bereit, sich knapp sechs Wochen lang auch nächtlich beschallen zu lassen. Wie erwartet waren die Reaktionen nicht einheitlich. Bei manchen Frauen und Männern stieg die Ausschüttung des Streßhormons Cortisol kontinuierlich an, bei anderen blieb die Konzentration vor und während des Versuchs konstant, und bei einer dritten Gruppe fiel die Cortisolkurve nach einer kurzfristigen Erhöhung sogar unter das Normalniveau.

Gerade diese letzte Gruppe, die sich scheinbar nach einer Weile an den Lärm gewöhnt hat, klagte in den Fragebögen über Unwohlsein. „Der Streß wird von diesen Menschen nicht mehr zugelassen, sie fühlen sich ausgebrannt“, berichtet Harder. Auch die Tatsache, daß jemand nicht aufwacht, ist keineswegs eine Garantie für einen gesunden Schlaf: Wer seinen natürlichen Rhythmus verliert, keinen Tiefschlaf mehr erreicht und lange im sogenannten Subaufwachen verweilt, ist auf Dauer so stark belastet wie jemand, der häufig wach wird – nur merkt er es nicht.

Streß, egal ob durch Lärm, Hektik oder den Verlust eines geliebten Menschen, ruft die gleichen vegetativ-hormonellen Reaktionen hervor: Die Hormone Adrenalin und Noradrenalin oder Cortisol werden ausgeschüttet. „Eine vorübergehende Erhöhung ist an sich nicht bedenklich, wenn sie tagsüber passiert. Sie setzt Energie frei. Entwicklungsgeschichtlich sind die Streßreaktionen sinnvoll für Flucht- und Kampfsituationen“, so Harder. Im Schlaf dagegen können die Hormone nicht durch eine Kraftanstrengung abgebaut werden. Ist die Cortisolkonzentration permanent erhöht, drohen Magen- und Darmgeschwüre, Herz und Kreislauf bekommen Probleme. Auch eine Beeinträchtigung des Immunsystems ist möglich. Bei erhöhten Noradrenalinwerten kann es zu einer beschleunigten Alterung des Herzens kommen.

Doch kann Krach wirklich krank machen? Oder geht es letztlich doch nur um Lebensqualität und Belästigung? Diese Frage ist bis heute wissenschaftlich nicht eindeutig beantwortet. Schließlich entstehen Krankheiten wie Herzinfarkt und Magengeschwüre nicht spontan, sondern sind Folgen längerer, meist verschiedener Belastungen. „Der empirische Kausalbeweis ist bei der langen Latenzzeit lärmbedingter Lebensbeeinträchtigungen kaum zu erbringen“, schreibt das Bundesgesundheitsblatt. Deshalb könne die Frage nur indirekt durch „experimentelle und empirische Bausteine“ abgesichert werden.

Aus drei Richtungen tragen die Forscher derartige Bausteine zusammen. Zum einen beobachten sie die vegetativ- hormonellen Reaktionen von Menschen auf Krach – so wie in dem oben beschriebenen Versuch. Zum zweiten sollen bestimmte Fragen im Tierversuch geklärt werden. So hatten Forscher schon in den sechziger Jahren Ratten über Wochen mit hohen Lärmpegeln beschallt: Die Tiere starben deutlich früher als ihre ruhig lebenden Artgenossen. Doch die Todesursachen der Ratten waren vielfältig: Die eine verhungerte, die nächste hatte Herzverfettung, wieder eine andere litt an einer Infektion. Später fanden Wissenschaftler heraus, daß der Schall das Immunsystem der Tiere zusammenbrechen ließ.

Der dritte Weg der Lärmforschung schaut zurück in die Vergangenheit. An der Berliner Charité werden zur Zeit 1.200 Herzinfarktpatienten nach ihren Arbeits- und Wohnorten der vergangenen Jahre befragt. Anhand von Verkehrszählungen soll herausgefunden werden, welchen Belastungen die Kranken ausgesetzt waren.

Den Zusammenhang zwischen Herzinfarkt und Verkehrslärm legt bereits eine andere Untersuchung in Berlin nahe: Bei Männern, die in den vergangenen fünfzehn Jahren an einer Hauptstraße mit durchschnittlich über 71 bis 75 Dezibel gewohnt hatten, nahm das Herzinfarktrisiko gegenüber Zeitgenossen aus ruhigeren Wohngegenden zu. Doch als Beweis gilt das noch nicht: Die Ergebnisse waren statistisch nur grenzwertig signifikant.

Inzwischen geht das Umweltbundesamt jedoch davon aus, daß Menschen, die in besonders lauten Straßen leben, ein zwanzig Prozent höheres Herzinfarktrisiko haben im Vergleich zu Menschen, die in einer ruhigen Umgebung wohnen. Das bedeutet: Pro Jahr sterben hierzulande statistisch gesehen 1.480 Menschen am Lärm. Daß auch die gesunde Bevölkerung stark unter dem Verkehrslärm leidet, belegen Umfragen: Siebzig Prozent der Menschen fühlen sich dadurch belästigt, fünfzehn Prozent sogar stark.

Obwohl Lärm hierzulande die Umweltbelastung Nummer eins ist – bereits 1988 waren in Westdeutschland 16,5 Prozent der Bevölkerung durchschnittlich einem straßenverkehrsbedingten Lärmpegel von 65 dB (A) ausgesetzt, Tendenz steigend –, wurde Lärmforschung keineswegs massiv gefördert. In diesem Herbst mußte die Technische Universität Berlin ihren Studienbereich Psychoakustik und Lärmwirkung abwickeln. Und auch sonst flossen die Forschungsgelder nicht gerade üppig. Einige Wissenschaftler vermuten, daß vor allem die Angst vieler Politiker vor den Kosten für Schallschutz dafür verantwortlich ist. Doch „die naturwissenschaftlich orientierte Wirkungsanalyse, die Risikoabschätzung, sollte unabhängig von einer Thematisierung der Machbarkeit oder der Kosten denkbarer Maßnahmen durchgeführt werden“, forderte Hermann Neus von der Hamburger Gesundheitsbehörde auf einem Lärmsymposium in Bonn.

Ein Recht auf Lärmvorsorge – Schallschutz meist in Form von guten Fenstern – haben in Westdeutschland bisher nur die Menschen, die an einer Straße oder Bahnstrecke wohnen, die nach 1974 gebaut oder erweitert wurde; im Osten darf die Trasse sogar nicht älter als sieben Jahre sein. Erreicht der Krach hier tagsüber mehr als 59 dB (A) oder nachts 49 dB (A), ist der Bauherr zur vollen Kostenübernahme verpflichtet. Wer an älteren Verkehrswegen wohnt, hat allerdings Pech. Doch Krach schlagen im Rathaus kann dennoch helfen: Das Bundesimmissionsschutzgesetz fordert nämlich von den Kommunen Lärmminderungspläne. Sie sollen ihre lautesten Stellen identifizieren und Abhilfe schaffen. Nachtfahrverbote für Lkw zu erlassen oder Tempo-30-Zonen auszuweisen, liegt in der Macht der Stadtverordneten. Um herauszufinden, wie laut es in der eigenen Straße ist, bietet Stiftung Warentest für 55 Mark ein Lärmgutachten an.

Doch Lärm ist nicht gleich Lärm. So empfinden Menschen gewisse Geräusche trotz gleicher Dezibelzahl als unterschiedlich laut. Deshalb gesteht die Verkehrslärmschutzverordnung zum Beispiel dem Schienenverkehr einen Bonus von fünf dB (A) gegenüber dem Straßenverkehr zu. Es muß aber auch zwischen kontinuierlichen und kurzfristigem Geräuschen unterschieden werden. Häufig wird mit einem Mittelungspegel gerechnet: Unter 65 dB (A) subsumiert werden so unterschiedliche Situationen wie die Vorbeifahrt von zweitausend Kleinautos in fünfundzwanzig Meter Entfernung innerhalb von einer Stunde und das Vorbeirauschen eines einzigen D-Zugs bei ansonsten herrschender Stille. Die Wirkungen aber sind unterschiedlich. Hinzukommt, daß sich Flughafenanwohner durch das Ausweichen in ein Hinterzimmer im Gegensatz zu Anwohnern einer Hauptverkehrsstraße nicht vor Lärm schützen können.

Doch ob bei der anstehenden Novellierung des Fluglärmgesetzes auch die Zahl der Starts und Landungen und der Maximalpegel berücksichtigt wird oder ein rechnerisch konstanter Dauerpegel zugrunde gelegt wird, ist noch umstritten.

Annette Jensen, 36, langjährige Wirtschaftsredakteurin der taz, lebt jetzt als freie Autorin in Berlin