Die unheimlichen Herrscher aus Sizilien

Am Anfang halfen sie sizilianischen Großgrundbesitzern, billige Landarbeiter zu rekrutieren. Doch schon nach kurzer Zeit waren sie mächtiger als ihre adligen Auftraggeber und unterwarfen ganze Landstriche ihrem Regiment. Inzwischen reicht der lange Arm der Mafia um die ganze Welt. Nicht nur eine Geschichte eines Mythos  ■ von Werner Raith

Die Mafia ist wieder in der Offensive. Der italienische Staat, der sich seit Jahren von einem scheinbaren Frieden mit der Mafia (“Pax mafiosa“) einwickeln ließ, hat sein Engagement im Kampf gegen Mafia und Camorra wieder aufgegeben, das er seit 1992, nach den Bombenattentaten auf die Strafverfolger Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, gezeigt hatte.

Zur Jahreswende wurde völlig unvermittelt der erfolgreiche Chef der Sondereinsatzkommandos im Kampf gegen die sizilianischen Banden, General Mario Mori, von seinem Posten abberufen und auf eine reine Repräsentationsstelle „befördert“ – für die Mafiafamilien eine gute Gelegenheit, im Durcheinander der Einarbeitungszeit des neuen Führungsstabes ihre Herrschaftsbereiche neu auszuschießen: Nachdem Mori mit seinen Spezialisten den Großteil der alten Mafiagruppen schwer in Bedrängnis gebracht und nahezu all ihre Chefs, darunter den „Boß aller Bosse“, Toto Riina, festgesetzt hatte, drängen nun neue Gruppen nach. Sie wollen sich ihren Platz auf der Sonnenseite der Erpressungs-, Drogen-, und Glücksspielwirtschaft sichern. Doch noch immer haben die alten Familien die Kraft zurückzuschießen. Denn sie schauen auf eine lange, berüchtigte Geschichte zurück.

Am Anfang stand ein Akt der Befreiung. Nach der Reichseinigung 1860/70 wurde in ganz Italien die Leibeigenschaft abgeschafft. Fortan mangelte es den besonders auf Sizilien noch dominierenden Feudalherren an Macht, die Bauern und Knechte auf ihren Ländereien zu halten und sie zum Nulltarif für sich arbeiten zu lassen: Die Bauern hatten sogar das Recht, die bislang von ihnen bewirtschafteten Parzellen zu kaufen.

Da schlug die Stunde einer Spezies von Männern und Bünden, mit deren Hilfe die Barone dafür sorgen ließen, daß ihr Land weiterhin gratis beackert wurde: Die Mafia entstand – jene ins Mysteriöse getauchte Erscheinung, die mal als feste Organisation, mal als Sozialform, gelegentlich auch als politische und wirtschaftliche Macht ersten Ranges beschrieben wird. Und deren Mitglieder fuhren im Laufe der Zeit Milliardenumsätze ein – in den achtziger Jahren angeblich über hundert Milliarden Dollar pro Jahr. Mit Schutzgelderpressung, Drogenhandel, mit der illegalen Akquisition staatlicher Aufträge, mit Waffenhandel und mit der Erpressung von Politikern und Industriellen.

Solche Erscheinungen entstehen nicht aus dem Nichts. Die Grundbesitzer konnten sich an altbekannte Adressen wenden: an angesehene Notabeln der Städtchen, deren Befehle nicht zu befolgen schon immer allerlei Sanktionen nach sich gezogen hatte, an Gesellenverbände oder Zusammenschlüsse fahrender Burschen, die zu ihrem Schutz Wehrgruppen gebildet hatten, oder einfach an gefürchtete Schlägerbosse.

Weigerten sich Landfamilien, von ihrem Recht auf Kauf der Parzellen zurückzutreten, oder wollten die arbeitsfähigen Männer gar abwandern, gab es „Verwarnungen“ – ein paar abgeschnittene Weinstöcke vor dem Haus, ein toter Hofhund oder der in drei Teile zerlegte Esel vor der Eingangstür – dann spurten die Arbeiter schon. Und wenn nicht, wurde eben einer umgebracht.

Freilich erfüllten diese Gruppen die Aufträge der Barone nicht umsonst. In der Regel verlangten sie, formal als Pächter eingesetzt zu werden und damit auch einen Anteil am Ertrag des Landes einzustreichen. Die Großgrundbesitzer willigten ein und wurden von den Mafiosi langsam, aber sicher selbst ausgebeutet: Die Forderungten dieser „Pächter“ stiegen beständig, bald konnte sich der Baron seine eigene Hofhaltung nicht mehr leisten.

Anschaulich schildert Giuseppe Tomasi di Lampedusa in seinem erfolgreich verfilmten Roman „Der Leopard“, wie die Familie des Fürsten Salina vom immer reicher werdenden Pächter an den Rand gedrängt wurde, so daß sie ihn sogar in ihre Familie einheiraten lassen müssen.

Wann der Name „Mafia“ für dieses Phänomen aufkam, ist unklar – ursprünglich bedeutete das Wort im Palermitanischen soviel wie wild, kühn, skrupellos, aber auch tüchtig. Literarisch nachgewiesen ist der Begriff in einem Volksstück, „I mafiusi della Vucciria“, verfaßt in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Der Mythos will jedoch, daß das Wort bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht, als sich die Inselbewohner vom Joch der Franzosen zu befreien versuchten. Es sind die Anfangsbuchstaben des damaligen Aufstandsfanals: Morte Ai Francesi, Italia Anela – Tod den Franzosen, keucht Italien.

Mit der Zeit wanderten Mafiosi vom Land in die Städte, begannen mit ihrer wachsenden Macht ertragreiche Sektoren zu dominieren, wie den Viehhandel, die Fischerei und die für das trockene Sizilien lebenswichtigen Wasserquellen und Aquädukte. Dabei blieb Mafiosentum immer Parasitentum: Wie sie schon als Pächter nicht selbst gearbeitet oder produziert, sondern die Bauern zur Arbeit gezwungen und den Baronen Teile der Ernte abgezwackt hatten, so verlangten sie jetzt Wegezölle für die Transporte, Standgebühren für die Marktverkäufer und Zapfgebühren für das Wasser. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die meisten nord- und westsizilianischen Dörfer und Städte mafios geprägt.

Kurz darauf folgte die große Mafia- epoche in den USA. Es war zur Zeit der Prohibition. Die Mafia schickte sich an, Amerika vom Alkoholverbot zu befreien und dabei die glänzendsten Geschäfte zu machen. Für Schmuggler brachen paradiesische Zeiten an. Vor allem für Italiener: Seit Ende des 19. Jahrhunderts waren sie zu Hunderttausenden über den Ozean gekommen, hatten sich in den Metropolen niedergelassen, ohne ihre Beziehungen zur alten Heimat aufzugeben. Kriminelle Organisationen wie die „Mano nera“ und „La cosa nostra“ schleusten mit ganzen Flotten Schnaps in die Staaten, der von den Vettern in Italien besorgt wurde, und kamen von dort mit Zigaretten zurück, die in Italien hohen Steuern unterlagen.

Mehr als ein Jahrzehnt verdienten sich beide Seiten goldene Nasen mit dem Schmuggel. In den USA schuf die Mafia zu jener Zeit ein riesiges Imperium aus Glücksspielerstädten, weitverzweigten Rauschgiftringen und Bordellketten. Sie mischten sich in die Politik und Industrieentscheidungen ein. Mit flächendeckender Bestechung sicherten sie sich lange Straflosigkeit – bis in den dreißiger Jahren Staatsanwälte mit sogenannten Umweganklagen erfolgreich waren: Berühmt wurden sie durch die Verurteilung des Vielfachmörders Al Capone wegen Steuerhinterziehung.

Aber auch wenn man in Italien bald weit hinter diesem Gangsterboom zurückblieb, kam man doch auch hier nicht schlecht voran. Der entscheidende Schritt wurde auch hier wieder über einen Akt der Befreiung getan: Benito Mussolini hatte in den zwanziger Jahren den legendären „Eisernen Präfekten“ Cesare Mori nach Palermo geschickt, um die mafiose Gegenregierung mit allen Mitteln zu bekämpfen. Als dieser später abgelöst wurde, war die Mafia noch lange nicht zerschlagen. Doch sie waren dreist genug, sich nach der Befreiung durch die Amerikaner als verfolgte Gemeinschaft darzustellen.

Viele Mafiosi wurden zu Bürgermeistern ernannt oder bekamen Sonderzuweisungen, mit denen sie alsbald schwunghaften Handel trieben. Verstärkung bekamen sie durch zahlreiche US-Mafiosi. Von 1943 an bildete sich daher in Nord- und Westsizilien ein fast unauflösliches Amalgam aus mafiosen Gruppen und von den USA geförderten Administratoren. So wurde ein ehemaliger Rauschgiftschmuggler Oberaufseher über die Medizindepots der US-Truppen, die ersten sizilianischen Waffenscheine wurde zwei altbekannten Mafiosi ausgestellt, und ein mafioser Christdemokrat wurde zum Transportminister in Rom ernannt. Gewerkschafter und Bauernführer, die demokratische Rechte einforderten, wurden reihenweise getötet.

In den fünfziger Jahren flossen hohe Summen zur Agrarumstrukturierung nach Sizilien, die zu einem großen Teil in mafiosen Händen landeten. Dasselbe geschah mit den Milliarden Dollar, die in den sechziger Jahren zum Wiederaufbau der bei einem Erdbeben zerstörten südsizilianischen Dörfer geflossen waren. Die so entstandene Baumafia dominierte später auch in den Großstädten: Firmen, die keine einzige Schaufel besaßen, zogen millionenschwere staatliche Bauaufträge an Land, behielten bis zu achtzig Prozent für sich und gaben den Auftrag zu Hungerlöhnen an Subunternehmer weiter, die miserable Arbeit lieferten.

Ein dichtgeknüpftes Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten, Verschwiegenheit und brutalen Sanktionen bei Vergehen gegen die mafiose Ehre machten es den Ermittlern lange Zeit unmöglich, auch nur einen kleinen Blick ins Innenleben der Mafia zu werfen, geschweige denn sie zu knacken oder die Bosse vor Gericht zu bringen. Und Italiens Mafia war inzwischen reicher und mächtiger geworden als die der USA.

Weil die Justiz bis in die achtziger Jahre keinerlei festgefügte Organisation namens „Mafia“ gerichtsnotorisch machen konnte, versuchten sich Wissenschaftler an dem Phänomen. So veröffentlichte etwa der deutsche Mafiaforscher Henner Hess 1970 eine sozialpsychologische Interpetation: Danach ist Mafioso nicht, wer sich für einen solchen hält oder wer bestimmte Straftaten begeht, sondern einer, den die Umgebung aufgrund bestimmter Verhaltensweisen und einer bestimmten Biographie zum Mafioso ernennt und ihm entsprechenden Respekt zollt. Solcher äußert sich etwa in der Bitte um Vermittlung bei Ehestreitigkeiten, der Empfehlung für einen Arbeitsplatz oder Hilfe zur Wiedererlangung eines gestohlenen Autos.

Doch das Bild des ehrenwerten Mafioso hielt nur so lange, bis sich herausstellte, daß die Mafia ein äußerst wandlungsfähiges Gebilde ist und sich längst verändert hat, wenn man glaubt, ihr endlich auf die Schliche gekommen zu sein. Als „politische, wirtschaftlich und militärische Macht“ definiert sie der Mafiaforscher Pino Arlacchi. Als kriminelle Version einer an sich nichtkriminellen „vermittelnden“ Einrichtung sieht sie der Cambridge-Professor Diego Gambetta.

In den achtziger Jahren hatte die italienische Mafia fest organisierte Formen angenommen, ihr militärischer Flügel nannte sich „Cosa Nostra“ und umfaßte gut sechs Dutzend „Familien“, in denen meist jedoch nur wenige Blutsverwandte zugelassen waren, um keine Hegemonie zu fördern. Sie waren militärisch gegliedert, vom Gefreiten bis zum Distriktskommandeur. Über ihm steht nur noch eine gewählte Kommission, die Streitigkeiten schlichtet und alle besonders delikaten Aufträge wie Politikermorde absegnen muß. Was jedoch nicht ausschließt, daß die in der Kommission vertretenen Gruppen einander bis auf den Tod bekämpfen. Mehr als fünfhundert Opfer hat der Mafiakrieg Anfang der achtziger Jahre auf den Straßen Siziliens gefordert.

Erkenntnisse über die Mafia fanden die Ermittler erst, als der Staat strafrechtliche Vorteile für Aussteiger verhieß und Mitglieder unterlegener Mafiagruppen sich zur Aussage bereiterklärten. Dies war der Anfang vom Ende der superpotenten Mafia jener Jahre. 1998 mußte sie erstmals die Gehälter ihrer Mitläufer auf die Hälfte (etwa fünfhundert Mark pro Monat) kürzen, das flüssige Kapital war aufgebraucht.

Ob die Mafia entscheidend getroffen ist, bleibt zu bezweifeln. Denn „wenn man heute die Mafia bekämpft“, schrieb bereits 1975 der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia, „dann bedeutet das nur, daß es dahinter bereits eine neue, mächtigere Mafia gibt.“

Werner Raith, 58, Italienkorrespondent der taz und Mafiaexperte, hat zum Thema mehrere Bücher verfaßt