Gute Märchen lügen nicht

Die bösen Geister sind noch nicht gebannt: Die Filmreihe „First Contacts“, die heute im Arsenal mit Jean Rouchs „Madame l'Eau“ beginnt, erzählt von interkulturellen Kontakten im Zeichen der Kolonialisierung  ■ Von Cristina Nord

1930 stießen die Gebrüder Leahy, drei Goldschürfer aus Australien, in den Hochlandtälern Papua-Neuguineas auf eine indigene Bevölkerung, die bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen Weißen gesehen hatte. Vier Jahre lang waren die Leahys in den unzugänglichen Tälern unterwegs, auf der Suche nach ihrem El Dorado. Zunächst mit dem Gewehr, später mit Tauschwaren machten sie sich die Ureinwohner gefügig, zeugten eine Menge Kinder, wurden zu Vorboten der australischen Kolonialisierung Papua-Neuguineas. Was sie von anderen Abenteurern unterschied, war die Kamera, die sie im Gepäck hatten: Sie bannten die Stationen ihrer kolonialen Unternehmung auf Zelluloid.

50 Jahre später stießen die australischen Filmemacher Bob Connolly und Robin Anderson auf die Geschichte der Leahys – und auf sieben Filmspulen mit je 150 Meter Footage, darunter Szenen mit Titeln wie „Eingeborene bei der ersten Flugzeuglandung“ oder „Eingeborene sehen zum ersten Mal einen Plattenspieler“. Nach der Sichtung des Materials, schreibt Connolly, hätten er und sein Kollege den Plan entwickelt, „einen Film zu machen, der viel und ungeschminkt über das Wesen des Kolonialismus und des Kulturkontaktes aussagen konnte“.

So entstand die Dokumentation „First Contact“, die dem selbstgesteckten Ziel auf beeindruckende Weise gerecht wird. Die Aufnahmen aus den frühen 30er Jahren werden mit Interviewsequenzen kombiniert; Hochlandbewohner, die die Ankunft der Goldschürfer selbst erlebt haben, kommen ebenso zu Wort wie zwei der drei Brüder, die auch ein halbes Jahrhundert später mit Stolz auf ihre Taten zurückblicken.

„First Contact“ liefert den Titel für eine heute im Arsenal-Kino beginnende Reihe von neun Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilmen, die sich allesamt mit Kulturkontakten im Zeichen von Kolonialisierung und Dekolonialisierung beschäftigen. Den Auftakt macht heute abend Jean Rouchs „Madame l'Eau“ (1992). Wie in vielen seiner Filme arbeitet der französische Dokumentarfilmer, Begründer des cinéma veŕité, auch hier eng mit den Protagonisten zusammen. Die drei Nigrer Damouré Zika, Ibrahim Dia und Tallou Mouzourane, die in „Madame l'Eau“ nach Holland reisen, haben sich schon in den 50er Jahren an Rouchs Filmen beteiligt – als Akteure wie auch als Berater der Regie. Ob in „Moi fatigué debout, moi couché“ („Ich bin müde vom Stehen, ich liege“, 1997), „Cocorico, Monsieur Poulet“ (1974) oder eben in „Madame l'Eau“: Die Blickrichtung der Ethnographie verkehrt sich in Rouchs Arbeiten; wo gewöhnliche Feldforschung auf Fakten aus ist, erobern Fiktionen, Geschichten, Träume die Filme – und erzählen weitaus mehr als die vermeintlich wirklichkeitsgetreue Abbildung fremder Lebensweisen. Führt die Reise in „Madame l'Eau“ von Niger nach Europa, geht Lindsey Merrison den umgekehrten Weg. Von England verschlägt es sie, ihre Mutter Sally und ihren Onkel Bill nach Birma.

Der dabei entstandene Film „Our Burmese Days“ (1996) illustriert jedoch keine Begegnung mit dem Fremden, sondern mit der eigenen Geschichte: Merrisons Vorfahren waren Anglobirmaner; die Mutter selbst verbrachte ihre Jugend in der ehemals britischen Kolonie, wahrt darüber aber hartnäckiges Schweigen. „Ich fühle mich als Engländerin“, wird sie nicht müde zu betonen; „ich habe keine asiatische Mentalität.“ Wenn ihr die Fragen der Tochter im Ranguner Hotelzimmer zu sehr auf die Nerven gehen, tritt sie einfach aus dem Bild heraus: „Sorry, das war's.“

Eine Stimme aus dem Off – vielleicht ist es die der Mutter – erzählt im Verlauf des Films ein Märchen: Ein Großer König hat etwas Unziemliches gegessen. Dem einzigen Zeugen droht er mit dem Tod, falls dieser reden sollte. Weil aber der Zeuge trotz der Gefahr nicht an sich halten kann, flüstert er das Geheimnis in einen hohlen Baumstamm. Einige Zeit später fällen Gefolgsleute des Königs genau diesen Baum, um daraus eine Trommel zu machen. Und wie zu erwarten, verrät das Instrument das Geheimnis, kaum daß es eingeweiht wird: „Der König ißt Spreu“, hört man im Takt der Schläge.

Das hartnäckige Verleugnen der Vergangenheit, so will es die Parabel, rächt sich über kurz oder lang. Davon zeugt Sallys Trauer am Grab ihrer in ärmlichen Verhältnissen verstorbenen Mutter, davon zeugen die Nachkommen der Gebrüder Leahy in den Hochlandtälern Papua-Neuguineas oder die Fußfesseln und Galeerennachbauten, die die drei Nigrer aus „Madame l'Eau“ in einer Vitrine des Amsterdamer Marinemuseums begutachten. Die bösen Geister der Kolonialisierung sind nicht gebannt.

„First Contacts“: Arsenal-Kino, Welser Str. 25, Schöneberg

16.1., 19 Uhr: „Madame l'Eau“ (Jean Rouch); 20.1., 19 Uhr: „Man No Run“ (Claire Denis); 23.1., 19 Uhr: „Our Burmese Days“ (Lindsey Merrison); 27.1., 19 Uhr: „Calendar“ (Atom Egoyan); 30.1., 19 Uhr: „Cracks In The Mask“ (Frances Calvert), 21 Uhr: „First Contact“ (Bob Connolly u. Robin Anderson)