Ein Entwurf mit Tiefenwirkung

■ Staatsbürgerrecht: Der Gegenangriff der Union wirkt halbherzig, zerfahren und vom Bewußtsein der kommenden Niederlage geschwächt

Es gibt Kompromisse und Kompromisse. Meinte Lenin, der Großstratege, an seine linksradikalen Kritiker gewandt. Recht hatte er. Der Kompromiß, den Otto Schily diese Woche in Sachen Staatsbürgerrecht für Ausländer unterbreitete, gehört zu der Sorte, die im Grundsatz zustimmungsfähig sind.

Das Effektivste (und das Einfachste) wäre gewesen, umstandslos das Territorialprinzip, das ius soli, zu etablieren, wonach Staatsbürger ist, wer auf dem Boden der Bundesrepublik geboren wurde oder dauerhaft auf ihm lebt. Schilys Entwurf, hierin dem Koalitionsvertrag folgend, bewahrt den Kern dieses Prinzips – und macht durch eine Reihe von Einschränkungen die Reform gleichzeitig für viele schon Deutsche akzeptierbar, die Angst haben. Angst vor dem Fremden, vor dem gesellschaftlichen Auseinanderfall in beziehungslose Subkulturen, vor der Anomie. Er zerschlägt nicht, aber er lockert die dichte Beziehung zwischen Staatsbürgerschaft und ethnischer Herkunft, die seit 1913, seit dem Erlaß des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes, eine Konstante unseres verhängnisvollen deutschen Jahrhunderts geblieben ist.

Die Begründung des Entwurfs macht aus der doppelten Staatsbürgerschaft kein Rechtsinstitut, das der exklusiven Beziehung Bürger-Staat schon deswegen überlegen wäre, weil es Platz schafft für eine reichere, mehrpolige Vorstellung von Identität. Der Entwurf ist einfach praktisch, er nimmt die konkreten Bedürfnisse derer auf, die schon lange Bestandteil der deutschen Wirklichkeit sind. Er macht aus „Mitbürgern“ Bürger.

Die Einwände gegen den Entwurf liegen auf der Hand. Er postuliert Ausschlußgründe, die teils sozial kraß ungerecht sind (kein Bezug von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe), teils mit rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbar (Vorbereitungshandlungen zur Gewaltanwendung, die auswärtige Belange der Bundesrepublik gefährdet haben).

Aber der Entwurf versteht sich seiner eigenen Anlage nach nicht als abschließende Regelung, als äußerste Kraftanstrengung, auf die nichts mehr folgen dürfe. Er bleibt offen. Nicht nur für die Verstümmelungsabsichten der Rechten, wie nach Schröders „Erläuterungen“ vielfach befürchtet, sondern auch für Nachbesserungen seitens derer, die es ernst meinen mit der Integration.

Geschlossener oder offener Horizont – was sich im Staatsbürgerrecht tut, kann noch tiefere Wirkungen entfalten. Zum Beispiel für die überfällige Diskussion darüber, ob im Grundgesetz der Begriff „Deutscher“ nicht durch den Begriff „Bürger“ zu ersetzen sei. Der Vorgriff ostdeutscher Bürgerrechtler und westdeutscher progressiver Juristen im 1990er Entwurf zur Verfassung eines „Bundes deutscher Länder“ versandete. Mit der Reform des Staatsbürgerrechts verbindet sich aufs neue die Chance, den Citoyen zum ausschließlichen Träger der „Bürgerrechte“ zu machen. Und das Verhältnis von Bürger- und Menschenrechten neu zu bestimmen.

Seit der Entwurf veröffentlicht wurde, sind seine Befürworter in der Offensive. Der Gegenangriff der Unionsparteien wirkt halbherzig, zerfahren und vom Bewußtsein der kommenden Niederlage geschwächt. Das trifft offenkundig für die Unterschriftenkampagne von CDU/CSU zu. Mitglieder der CDU werben nur ungern auf öffentlichen Plätzen für Unterschriften, das ist eklig, gehört zum Habitus der Linken. Und für viele innerlich widerstrebende, notgedrungen loyale Unterschriftensammler können die vielfältigen Integrationsversprechen, die die Initiative der Unionsparteien schmücken, das harte „Nein!“ zur doppelten Staatsbürgerschaft nicht überzuckern. In dem versprochenen Honigfäßchen „Einbürgerungszusicherung“ schmeckt der Löffel Teer nach, um eine weitere glückliche Redewendung Lenins zu gebrauchen.

Früher galt auf seiten der Linken die Maxime, eine Sache durchzufighten bis zu ihrem glücklichen, meist allerdings erfolglosen Ende. Daß jetzt von der Koalition so nachhaltiges Gewicht gelegt wird auf eine breite gesellschaftliche Koalition, zeigt nicht nur mehr politisches Geschick, sondern verweist auch auf ein gewandeltes gesellschaftliches Klima.

Die Bildungselemente sicherer, unbefragter Identität: Familie, Religion, Nation zersetzen sich, wie in jeder „Wertewandel“-Untersuchung der letzten zwanzig Jahre nachlesbar. Im politischen Entscheidungsprozeß dominiert rational choice, der eine (freilich die Kosten kalkulierende) Solidarität keineswegs ausschließt.

Es war dieser Gemütszustand, der der neuen Koalition zur Macht verhalf. In ihren glücklicheren Momenten drückt sie ihn selbst aus. Die CDU aber zerreißt sich zwischen dem Wunsch nach Anpassung an „Modernität“ und dem gleichzeitigen, verzweifelten Mühen, in der alten Identitätsruine auszuharren.

Wie der Streit um Kruzifixe in Schulzimmern lehrt, hat auch die bayerische CSU mit der Addition „High-Tech plus Krachlederner“ diesen Zwiespalt nur scheinbar überwunden. Und in den vielfältigen Abfederungsversuchen des Rüttgers-Papiers zum Staatsbürgerrecht kommt er offen zum Ausdruck. Auch der CDU-Führung gehören ihre Anhänger nicht mit Haut und Haaren, weder in den Kreisverbänden noch in den Redaktionsräumen der Frankfurter Allgemeinen.

Allerdings wäre es ziemlich naiv, einfach auf den politischen Durchschlagseffekt einer neuer Mentalität zu rechnen. Gerade im Fall der Reform des Staatsbürgerrechts erweist es sich, daß langandauernde, überaus zähe, oftmals frustrierende gesellschaftliche Auseinandersetzungen nötig sind, damit sich ein Projekt in der politischen Sphäre kristallisiere. So verhielt es sich mit dem Jahrzehnte währenden Kampf um die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, und nicht anders verhält es sich mit dem Ausstieg aus der Atomenergie, deren Schneckentempo sich auch aus der gegenwärtigen Schwäche AKW-feindlicher Basisorganisationen erklärt. Für die Reform des Staatsbürgerrechts streitet eine gesellschaftliche Koalition, die so schnell nicht geschluckt werden wird. Soll die CSU ruhig den nächsten Schub apokalyptischer Reiter loslassen: Die neuen Staatsbürger werden Minderheitenrechte einfordern! Türkisch wird zweite Amtssprache! Darüber läßt sich trefflich an jeder Straßenecke streiten.

Keine Angst vor der Unterschriftensammlung der CDU/ CSU! Sie brüllt, sieht furchterregend aus, ist aber ihrer politischen Substanz nach nur, na Sie wissen es schon. Christian Semler