Mörderischer Ramadan in Algerien

Während des islamischen Fastenmonats wurden wieder viele Menschen Opfer von Anschlägen. Besonders in der Provinz Ain Defla, einem der Rückzugsgebiete der GIA, sind Massaker an der Tagesordnung  ■ Aus Ain Defla Rainer Wandler

„Fahren Sie vorsichtig“, steht auf großen blauen Schildern entlang der RN 4. Befolgt wird der Hinweis von keinem auf der Nationalstraße von Algier nach Oran. Denn die Reisenden haben längst bei Blida die Autobahn verlassen. Ab dem Städtchen El Affroun windet sich die RN 4 durch malerische Täler, eingesäumt von felsigen Berghängen. Kriegsgebiet. Die nächsten hundert Kilometer führen durch die Provinz von Ain Defla, zwei Autostunden westlich der Hauptstadt, die nicht erst seit den Massakern während des diesjährigen Fastenmonats Ramadan zu trauriger Berühmtheit gelangt ist. Die Region ist eines der letzten Rückzugsgebiete der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA).

Bis vor zwei Jahr waren hier selbst tagsüber Straßensperren der radikalen Islamisten noch an der Tagesordnung. Die in weiten Teilen parallel zur Straße verlaufende Zuglinie wurde mindestens einmal pro Monat Ziel von Bombenanschlägen. Dann hat die Armee die Verkehrswege gesichert. Auf abgeholzten Freiflächen stehen Wachtürme. In mit Sandsäcken geschützten MP-Nestern halten Soldaten Ausschau. Hin und wieder taucht eine Kaserne am Straßenrand auf. Schützenpanzer bewachen die Einfahrt. Immer neue Konvois bringen aus der Hauptstadt Nachschub.

Trotz des starken Aufgebots gilt die RN 4 nur von neun bis 15 Uhr als sicher. Dann zieht sich die Armee zurück. Der Fastentag geht zu Ende. Während in den Kasernen und den wenigen Dörfern dem Fastenbrechen entgegengefiebert wird, verlassen die GIA-Kommandos ihre Verstecke. Wer es nicht bis in eine größere Stadt geschafft hat, läuft Gefahr, gestoppt, beraubt und ermordet zu werden. Erst am Montag haben die Sanitäter des Krankenhauses von El Affroun wieder drei Enthauptete geborgen.

Jedes Straßenschild an den Abzweigungen spricht von Tragödien. Im Kurort Hammam Righa wurden vor zwei Wochen die Thermalbäder und ein Erholungsheim für Veteranen in Brand gesteckt. Rund um den Höhenkurort Ain Nsour durchkämmt die Armee die Berge, nachdem Ende Dezember acht Soldaten in einem Hinterhalt ums Leben gekommen sind. Das blutigste Massaker der Region im Ramadan fand am letzten Sonntag des alten Jahres in Ain Soltan statt. Die Bilanz: 16 Tote.

„Das Ganze begann hier, um 19.20 Uhr“, erinnert sich Mussa, der Besitzer einer Telefonzentrale am Marktplatz von Khemis, der mit 80.000 Einwohnern größten Stadt der Provinz. „Ich stand mit zwei Kunden vor der Tür, als wir einen Knall hörten. Wir dachten eine Bombe, da kam schon die zweite Explosion, gleich dort drüben.“ Er zeigt auf die Mauer der Grundschule mit schwarzen Rußflecken und mehreren Dutzend Löchern. Elf weitere Detonationen im Stadtteil folgten. „Schnell wurde uns klar, daß es keine Bomben waren, sondern Heb-Heb“ – von den GIA selbst gefertigte, mit Eisenschrott gefüllte Granaten, die von einem zwei Kilometer entfernten Berg auf Khemis abgefeuert wurden. Ein Nachbar von Mussa verlor sein Leben, 25 weitere wurden verletzt. Er selbst kam wie durch ein Wunder unversehrt davon. „Das zweite Mal, daß ich Glück hatte“, sagt Mussa. Erst Anfang Dezember waren auf dem selben Markt 14 Menschen bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen.

Schnell sollte sich herausstellen, daß Granaten auf Khemis nur die Aufmerksamkeit der Armee von einem geplanten Überfall auf Zmala, einer ärmlichen Siedlung am oberen Rande des Landarbeiterdorfes Ain Soltan nur fünf Kilometer außerhalb der Stadt, ablenken sollte. „Sie kamen gegen 21.00 dort den Berg herunter“, erzählt Yahoui, der in jener Nacht 15 Verwandte verlor. Als die Bande die erste Lehmhütten erreichte, legten sie ein Bombe. Die Außenmauer stürzte ein und begrub zwei Kinder unter sich. Die restlichen drei Anwesenden machten die Angreifer mit Säbeln nieder. „Dann drangen sie in die zweite Hütte, die der Großeltern, ein“, erklärt Yahoui. Die Hütte des anderen Sohnes der Alten wurde von den radikalen Islamisten in Brand gesteckt. Jetzt sind nur noch die Außenmauern übrig. Die Fensterrahmen hängen verkohlt in den rußgeschwärzten Löchern. Das Dach ist eingestürzt. „Sechs verkohlte Leichen haben wir hier geborgen. Sie sind bei lebendigem Leib verbrannt“, sagt der 27jährige. „Einem gelang es zu fliehen, doch weit kam er nicht“, sagt der junge Mann und zeigt auf einen riesigen rotbraunen Fleck auf dem Lehmboden der Latrine. „Geköpft“, fügt Yahoui hinzu.

„Wir hier hörten alle die Hilferufe“, erzählt Ben Aicha, der Nachbarsohn. „Doch wir konnten nichts machen, keiner hier hat eine Waffe, obwohl wir seit Jahren die Armee darum gebeten haben.“ Sein 68jährige Vater versuchte dennoch die Angreifer einzuschüchtern. „Ich schieße, wenn ihr nicht macht, daß ihr wegkommt“, rief er. „Er bluffte nur“, sagt sein Sohn. Als das GIA-Leute dies bemerkten, eröffneten sie das Feuer. Yahouis Vater war auf der Stelle tot. Seine Mutter wurde verletzt.

„Die Terroristen gehen immer nach dem gleichen System vor. Sie überfallen abgelegene Häuser, töten alle und nehmen Lebensmittel, Tiere, Geld und Schmuck mit“, erklärt der Sprecher der Provinzregierung in Ain Defla, Abderahamane Marouf. „Unsere Region hat eine traurigen Beinamen: Wiege des Terrorismus“, sagt Maruof, der Mitglied der Regierungspartei National Demokratische Versammlung (RND) ist.

Hier entstand unter der Leitung von Mustapha Bouyali in den achtziger Jahren die erste bewaffnete islamistische Oppositionsgruppe. Hier wurde 1991, als die Islamisten die Kommunalwahlen gewonnen hatten, der erste Polizist ermordet. Und es war auch Ain Defla, wo die frustrierte junge Menschen nach dem Abbruch der Parlamentswahlen 1992 und dem Verbot der Islamischen Heilsfront (FIS) besonders schnell zur Waffe griffen. Und jetzt wo es der Armee gelungen ist, die GIA nach und nach aus den Regionen rund um die Hauptstadt zu vertreiben, ziehen sie sich erneut hierher ins Gebirge zurück.

„Auch wenn wir in den Schlagzeilen sind. Heute ist es hier vergleichsweise ruhig“, sagt Marouf. „1993 bis 1995 waren 14 Dörfer von den 35 der Provinz in der Hand der Terroristen. Sie zerstörten alles öffentlichen Einrichtungen.“ Den Gesamtschaden beziffert er mit 600 Milliarden Dinar, umgerechnet 17 Milliarden Mark.

Dann setzte die „Rückeroberung“ ein. Marouf kramt Photos hervor. Dutzende blutüberströmte Leichen bärtiger Männer, „ausgelöschte Terroristen“, sind zu sehen und wiedererrichtete Schulen. Im Oktober 1997 gab der bewaffnete Arm der FIS, die Front des Islamischen Heils (AIS), auf und handelte einen Waffenstillstand aus. Seither leben die AIS-Einheiten zurückgezogen in den Bergen nahe der Dörfer El Hamra und Arib. Die Angehörigen haben zu Lagern freien Zugang. Manche AIS-Angehörige seien gar in ihre Häuser zurückgekehrt, erzählen die Menschen in Ain Defla. Seither sind nur noch die wesentlich radikaleren GIA aktiv. „Die Armee wird sie bald vollständig ausradieren“, sagt Marouf. 80 Angehörige der GIA haben nach Presseangaben bei der Militäroperation in der Provinz von Ain Delfa in den letzten Wochen ihr Leben verloren. 40 bis 50 Mann sollen es nur noch sein, die die Region in Angst und Schrecken versetzen. Schwer zu glauben, angesichts der von ihnen während des Ramadan verübten Anschläge.