Die Asche kehrt nach Indien zurück

■ Flucht vor der Erblast des Katholizismus: Jerzy Grotowski galt als Vater des „armen Theaters“. Ein Nachruf auf den polnischen Regisseur

Im Januar 1998 trat Jerzy Grotowski zu einem seiner seltenen Vorträge vor die Öffentlichkeit. Seine Rede von Ramana, einem indischen Guru, der an der Angst vor dem Tod zum schweigenden Weisen wurde, hat der Regisseur Ivan Stanev in einem denkwürdigen Artikel in der Zeitschrift Theater heute wiederzugeben versucht. Ziemlich genau ein Jahr später, am 14. Januar, ist der polnische „Theatermagier“ und Guru menschlicher Selbsterforschung in seiner italienischen Wahlheimat nahe bei Pontedera gestorben, wo er nach eigenen Aussagen in einer „Klause“ lebte, umgeben nur von einigen wenigen Vertrauten.

Erst Mitte der achtziger Jahre hatte der 1933 in Rzezów geborene Grotowski sein legendäres Theaterlaboratorium in Wroclaw endgültig aufgelöst. Sein Verstummen aber ging langsam vonstatten und wurde hörbar schon am Tag, an dem er mit „Apocalypsis cum figuris“ der Welt der Bühne den Rücken kehrte. Das war Anfag der Siebziger, und der finster blickende Pole war gerade zum Lieblingskind internationaler Festivals avanciert. In den Jahren vor seinem Tod trat Grotowski nurmehr im Umfeld der Theateranthropologie in Erscheinung, für die er am Collège de France eine Professur innehatte.

Er publizierte Kryptisches zu „Körperarchäologie“ und „Urritualen“ und schien sich auf dem Weg von „Körper-und-Wesen zum Körper des Wesens“ ein wenig in sich selbst verirrt zu haben. Doch zeigen diese späten Äußerungen auch, daß Grotowski bei aller temporären Hellsicht nie ein Theoretiker gewesen ist, sondern immer „nur“ Pilger auf der Suche nach der innersten „Wahrheit“ des Menschen. Schon zu den Hochzeiten seines Lebens als Regisseur dienten ihm theatralische Rollen „nur als Skalpelle“, um diese Wahrheit bloßzulegen. Nicht „Schau-Spiel“, sondern „hinab“ und „hinein“ etablierten sich früh als die Losungsworte, an denen seine Jünger einander erkennen konnten.

Grotowski, dessen Buch „Für ein armes Theater“ in der Küche der Theaterwissenschaft und -praxis oft zusammen mit Artaud serviert (und wie dessen „Das Theater und sein Double“ allenfalls halb verdaut) wird, war die Bühne als Kupplerin von Voyeuristen mit Exhibitionisten seit jeher suspekt. Sein „armes Theater“ forderte nicht nur Befreiung von allem schmückenden Tand, sondern wollte auch dem Menschen an die Essenz. Seiner schon im Opoler „Theater der 13 Reihen“ (1959 –1965) überschaubar gehaltenen Zahl von Mitarbeitern war der strenge Pole gottväterlicher Erfüllungsgehilfe der Transformation zum „heiligen“ Schauspieler. Die wenigen, die seinen Aufführungen als Zuschauer beiwohnen durften, berichteten von einer ekstatischen Erfahrung, einer Erleuchtung fast. Doch vor allem sein Führungsstil sorgte auch für Kritik. Der polnische Theaterwissenschaftler Jan Kott gab in einem Essay dem Sektenführer, der seine Getreuen singend in den Tod führt, unverkennbar Grotowskis Gesicht. Und die Prostitution des Schauspielers auf der Bühne, die der Guru so vehement angriff, ging schon mal als Vorwurf an den Absender zurück.

Der schonungslosen Selbstentblößung im „totalen Akt“, die in Ryszard Cieslaks „standhaftem Prinzen“ zur Perfektion fand, wird gerne das Emblem „Körpertheater“ angeheftet. Doch wurde der Körper eher transzendiert zu einer Art Phiole, die dem Heiligen Geist, den sie enthält, das Leuchten lehrt. Grotowski war nicht der einzige in diesem Jahrhundert, der sich auf dem Rücken einer erzkatholischen Erblast auf die Suche begab nach dem Heil des Menschen dies- oder jenseits der Kunst. Doch er war der konsequenteste.

Als die revolutionären sechziger in die wilden siebziger Jahre mündeten, ging ein schwerer, stiller Mensch mit dunkler Hornbrille auf eine Indienreise. An seiner Stelle kam ein anderer zurück. Unter der indischen Sonne hatte Grotowski einen Gutteil seines Körpergewichts gegen eine bärtig-verstrubbelte Zuversicht eingetauscht, die ihn seine Unternehmungen fortan nur noch „paratheatral“ oder „meetings“ nennen ließ. Aus Schauspielern und Zuschauern wurden Workshopteilnehmer, statt schöner Worte gab es den Duft des Lichtes und den Geschmack der Erde wie der Selbstentdeckung. In der Toskana betrieb der Meister seine Schule der Innerlichkeit als „Workcenter“ weiter – und tauchte immer tiefer, bis zu den Quellen der Welt.

Am vergangenen Donnerstag hat eine hartnäckige Krankheit Grotowskis langen Weg des Verstummens zu Ende gebracht. Seine Asche aber soll nach Indien zurückkehren, wo sie womöglich mit der Seele Ramanas zusammentreffen wird – vereint in einem Schweigen, dem auch in Zukunft viele werden lauschen wollen. Sabine Leucht