Erst Blut, dann Tränen und Geschenke

■ Am Sonntag war er ein letztes Mal der umjubelte Hansi im Glück in „Vivat Amnesia“: Stefan Walkau verläßt das Theatre du Pain. Das schockierte Publikum warf daraufhin mit Blumen um sich und sang gerührt „Nehmt Abschied“

Nein so was! Aber auch!! Da betrachtet man aus kühler professioneller Distanz eine Darbietung auf der Bühne des Schlachthofs, fältelt misanthropisch die Mundwinkel, als die obligatorische milchige Flüssigkeit ins Publikum gespritzt wird, unterdrückt ostentativ ein kleines Gähnen, bedenkt durchaus den ein oder anderen Regieeinfall mit wohlwollendem Beifall, nimmt sich vor, zum ersten und einzigen Male gaaanz anders als alle vorangegangenen Rezensenten über das „Theatre du pain“ zu schreiben, nicht reinzutappen in die Wortklingelfalle des „anarchistischen Aktionskabaretts (taz), in der man so herrlich mitklingen kann, ja sogar muß.

Kurz: Man hat ein Konzept. Und dann DAS: Am Ende verkünden die Jungs Mateng Pollkläsener, Hans König und Stefan Walkau, unsere Jungs, die man notfalls als Möbel in der Bremer Kulturlandschaft, ach was: als Immobilien oder sogar Sinequanonien bezeichnen könnte – verkündet „Theatre du pain“ also, daß wir Bremer an diesem Abend Stefan „Schnuckelchen“ Walkau zum allerletzten Mal sehen konnten. Jedenfalls in dieser Ausprägung, als Mitglied der „Chaoten wider die üblichen Kulturschubladen“ (o ja, ein taz-Zitat auch dies).

Blumen, Geschenke, Tränen, Umarmen, die Zuschauer (der Saal war skandalöserweise nur licht besetzt an diesem Sonntag abend, hätte man diesen Ausgang geahnt, die Gemeinde wäre vollständig erschienen!) wurden auf die Bühne gebeten zum gemeinsamen Absingen der TdP-ade-Hymne „Nehmt Abschied, Brüder, ungewiß“ (einschließlich der Zeile „Wir ruhen all in Gottes Hand“ – so sehr hat dieses Theater sein Publikum in der Hand!). Noch mehr Tränen, Feuchtes selbst im Auge des Rezensenten. Kritik, wo ist dein Stachel? Weg!

Klingeln wir also noch einmal zu Ehren von Stefan Walkau mit (der „ersetzt“ werden soll, ha ha, da lachen wir doch einmal ganz kurz und trocken und sogar bitter, „ersetzt“! Welcher andere Glatzkopf, bitte schön, hätte so ausgeprägte, prominent vorstehende Hinterhauptsknochen? Wer sähe im Lack-Tanga sexier aus? Wer trüge eine solch riesige Nase selbstbewußter und nonchalanter durch die Welt? Welcher zweite schaffte es, jederzeit intelligenter und eleganter als sein Publikum und sogar intelligenter und eleganter als seine Rolle auf der Bühne zu wirken. Und gleichzeitig bei allen Anwesenden Beschützerinstikte zu wecken. Von all den anderen Instinkten ganz zu schweigen?)

Stefan war Hansi im Glück, Mateng war Günther, sich seiner Sache aber nie sicher, Hans war Oskar, dessen knapper Anzug wie gewöhnlich spannte überm Gemächt. Nicht anwesend war die Dame Solala (Heute küßt du nur Solala) in dem Singspiel „Vivat Amnesia“, in dem das TdP „dem Vergessen ein Denkmal“ (Weser Kurier) setzt. In der Tat geht es um die Erinnerung, d.h. um die Frage, ob wir nur leben, weil sich irgend jemand an uns erinnert, der aber nur lebt, weil wir uns an ihn erinnern, oder anders herum: Wie kann jemand ohne einen Haufen Macken perfekt sein? Oder noch andersherum: Ich bin beschnitten. – Wo? –Anne Tulpe! – Du Aufschneider!

Das Theatre du Pain ist eben das Theater der existentiellen Nöte. Wer denkt, unerbittlich denkt, beißt sich in den Schwanz, eine Erkenntnis, mit der sich schwer leben läßt. Das TdP hilft dabei. Mit martialischen Aktionen, die an die reinigende Wirkung des Theaters der Grausamkeit (Artaud) erinnern. Nennen wir es „Erdungen“.

Ein Erdung in diesem Sinne vollzieht sich, wenn Ekelpaket Pollkläsener zum Entsetzen seines Publikums mit einem Elektromesser Schweinefleischlappen von seinem blutenden Knie abtrennt. Oder eine Möhre kämmt.

Es soll hier keineswegs vergessen werden zu erwähnen, daß Hans „Schwiegersohn“ König, wenn er mit den richtigen Leuten verkehren würde, einen prima Entertainer abgeben würde. Das TdP ist aber kein Entertainmenttheater, welches für die ganz große Halle taugte. Dazu muß man viel zu viel Angst um seine Garderobe haben. Um seinen Verstand. Um seine Seelenruhe. Übrigens sind das alles unbegründete Ängste. In Wirklichkeit –und das macht das TdP unverzichtbar – helfen die drei immerjungen Männer mit Sätzen wie „Wie kann die Liebe böse sein – schlecht nur das Widerstreben“, die Gräben zwischen unseren Köpfen und Bäuchen in beide Richtungen zu überspringen. Denn eigentlich ist dies ein sentimentales Theater.

Das Sentimentale aber ist ansteckend.

Und darum soll dieser unkritische, anbetungsvolle Aufsatz mit einem Gruß an den Mann enden, den die taz einmal „zart und garstig“ nannte (wobei man dem flüchtigen Leser ebenso wie der flüchtigen Leserin sagen sollte: Stefan Walkau ist NICHT tot!): Danke, Du Schöner, Du Herrlicher und gänzlich Unersetzlicher, Du Schwanz im Glück!

Burkhard Straßmann