Die Erfindung der Gesellschaft

Die Soziologie nach getaner Arbeit. In Porträts und Interviews parlieren Sozialwissenschaftler über die Gesellschaft. Der Einfall des Autors überflügelt die Empirie  ■ Von Harry Nutt

Mit der Rückkehr der Geschichte nach 1989 und dem sanften Ausklingen der Postmoderne, einer Art Novelle über das Ende der großen Erzählungen, war irgendwann auch die Gesellschaft wieder da und mit ihr die Sozialwissenschaftler. In Zeitgeistagenturen gaben sie Trendprognosen, und die Wirtschaft bediente sich ihres Knowhows bei der Betriebsorganisation. In Großbritannien nahm einer die Sache gleich ganz in die Hand. So darf man im Ton leichter Übertreibung wohl behaupten, daß der Soziologe Anthony Giddens das Staatsdesign von Tony Blair und New Labour aus dem Stabilbaukasten seiner Gesellschaftstheorie entworfen hat. Und? Geht doch.

Das ist um so überraschender, weil die Frage nach der Gesellschaft auf den ersten Blick Ergebnisse zutage fördert, die sich von einer spontanen Straßenumfrage so deutlich nicht unterscheidet. Alles ist im Fluß, wird immer unübersichtlicher und komplexer. Wir steuern auf eine Weltgesellschaft zu, nennt man sie nun postnational, transnational, transkulturell oder beschreibt sie, fast schon vulgär, im Zeichen von Globalisierung. Es kommt auf den Beobachterstandpunkt an, der, das weiß man nicht erst seit Luhmann, selbst wieder unter strenger Beobachtung steht.

Auf der Straße, zumindest in bestimmten Gegenden, würde man wohl auch auf ähnliche Präferenzen wie der Journalist Armin Pongs stoßen, der zwölf Soziologen und Sozialphilosophen von Rang interviewt hat. Thomas Mann und Robert Musil haben Mehrfachnennungen beim Schriftstellerranking abbekommen, und bei der Frage nach dem beliebtesten Gesellschaftsspiel war von Skat bis Zauberei und Pferderennen alles dabei. Die Welterklärer, so ein vorläufiges Zwischenergebnis, sind verheiratete Männer mit ausgeprägtem Familiensinn und von durchschnittlicher Geselligkeit.

Daß der Leser gesagt bekommt, mit wem man es zu tun hat, ist von konzeptioneller Evidenz, denn die gegenwärtige Soziologie, so wie sie hier in knappen Porträts und Gesprächen abgebildet wird, lebt von der Einbildungskraft ihrer Autoren. Der Einfall überflügelt die Datensammlung sozialwissenschaftlicher Erhebungen. Das ist nicht pejorativ gemeint. Das wichtigste Handwerkszeug zur Beschreibung von Gesellschaft ist Sprache oder, mit Herder: „Unsere Vernunft bildet sich nur durch Fiktionen.“ Es ist das Verdienst dieses unprätentiösen Bandes, die Bedeutung des persönlichen Inputs in Sozialwissenschaft als Beipackzettel mitzuliefern.

Was als Running Gag von Zeitungsglossen bereits durch ist, die Inflation von Gesellschaftsbegriffen wie Risiko-, Erlebnis- oder Wissensgesellschaft, dem ist Armin Pongs in seinen Porträts in ernster Absicht und kompetenter Ausführung noch einmal nachgegangen. Der Befund ist denkbar einfach. Auf die Frage „In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?“ kann es keine konsistente Antwort geben.

Ulrich Beck, dessen Erfolg seines Buches über die „Risikogesellschaft“ erheblichen Anteil an der Vervielfältigung des Gesellschaftsbegriffs hat, beschäftigt inzwischen die Frage, wie die Niemandsherrschaft und die organisierte Verantwortungslosigkeit überwunden werden kann. Seine jüngeren Arbeiten kreisen um den Begriff der Bürgerarbeit, mittels derer Leistungen am Gemeinsinn gratifiziert werden sollen. Das ist protestantisch gedacht und hat nur vordergründig mit der Bürgergesellschaft zu tun, wie sie dem großen Liberalen Ralf Dahrendorf vorschwebt. Wo Beck und andere den Staat wieder stärker zur Verantwortung heranziehen möchten, optiert Dahrendorf für eine noble Zurückhaltung des Staates und seiner Neigung zur Anmaßung von Aufgaben. „Die deutsche Pflegeversicherung“, so Dahrendorf, „geht mir einen Schritt zu weit. Es gibt kein Steuersystem, das mit der steigenden Zahl von Kranken und Alten zufriedenstellend fertig wird. Nur Gemeinschaften und Familien können das.“

Der Gesprächsduktus ist durchaus kneipenkompatibel. Es läßt sich daraus lernen, bietet aber immer wieder auch Anschlußmöglichkeiten zum Mitreden. Ein bißchen ist es so, als plaudere man mit den Soziologen nach getaner Arbeit. Ohne Ulrich Beck, Ralf Dahrendorf, Claus Offe, Daniel Bell, Martin Albrow, Wolfgang Welsch und Co. zu nahe treten zu wollen, darf man sagen, daß sie die heiße Phase empirischer Datensammlung und -auswertung bereits hinter sich haben und ihr Bild von der Welt aus der Perspektive der Prominenzphase in den Raum stellen. Auch das ist nicht abschätzig gemeint. Der Reiz des Buchs besteht darin, die Befragten dabei zu beobachten, wie sie die Linse auf neue Beobachtungsgegenstände ausrichten und scharf stellen.

Der Schweizer Soziologe Peter Gross zum Beispiel hat 1994 den Zauber und Schrecken der Multioptionsgesellschaft ausgemalt. „Die überall erlebbare Kontingenzerhöhung mit ihrer Öffnung von Operationsräumen und ihrer Steigerung von Optionen geht Hand in Hand mit dem abnehmenden Druck überkommener Gewißheiten, mit Emanzipation von Zumutungen aller Art.“ In einer Welt der gesteigerten Wahlmöglichkeiten interessiert ihn heute zunehmend die Frage, was passiert, wenn einer nicht gewählt wird.

Die Frage nach gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion ist das große Thema gegenwärtiger Sozialwissenschaft. Gross hält die Intervention der Modelle von Bürgerarbeit inzwischen für einen alten Hut, gut gemeint, aber mit geringen Erfolgsaussichten. Er plädiert für eine radikale Subpolitik, in der die kleinen sozialen Einheiten es der Wirtschaft nachmachen sollen. „In der globalen Wirtschaft etabliert sich das Phänomen globaler tribes. Und wie zum Trost einer sich auflösenden und zersplitternden Gesellschaft, in der das Individuum triumphiert, ist derzeit überall und keineswegs nur in der Wirtschaft von Fusion die Rede.“

Die Soziologie, so der Eindruck nach der unterhaltsamen Lektüre der Gespräche, winkt nicht mehr mit den Fahnen harter Wissenschaftlichkeit. Ihre Akteure verstehen sich als mehr oder minder gut munitionierte Stichwortgeber. Ob sie gehört werden, hängt von der Stichwortdurchlässigkeit der Politik ab. Aber selbst dann ist keine dauerhafte Paarbildung garantiert. Das Verhältnis zwischen Tony Blair und Anthony Giddens beschreiben gut unterrichtete Kreise inzwischen als abgekühlt. Die Erfinder wie die Verwalter des großen Ganzen können bisweilen auch kauzige Vögel sein.

Armin Pongs: „In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Gesellschaftskonzepte im Vergleich“, Band 1. Dilemma Verlag, München 1999, 282 Seiten, 46 DM