■ Schlagloch
: Unsere geliebten Klischees Von Klaus Kreimeier

„Zweifel plagen mich. Was ist, wenn alles bloß Illusion ist und nichts existiert? In dem Fall habe ich entschieden zuviel für meinen Teppich gezahlt.“ Woody Allen

Fast muß man dankbar dafür sein, daß der Kölner Kardinal Meisner die Abtreibungspille RU486 mit den Chemikalien verglichen hat, die in den Massenvernichtungslagern der Nazis zur Anwendung kamen. Bestätigt sich nicht der Verdacht, daß die katholische Kirche oder zumindest ihre Hierarchie immer dann, wenn es um die Ermöglichung einigermaßen menschenwürdiger Lösungen in einer problembeladenen Gesellschaft geht, schlichtweg überfordert, ja inkompetent ist?

Oder nehmen wir die Irak- Nachrichten. Beweisen die nicht, daß die bisher nur subversiv geäußerte Vermutung, die Unscom sei nichts als eine Spionagebande im Dienst der US-amerikanischen Geheimdienste, nunmehr knallhart bewiesen ist? Glasklar liegt jetzt zutage, daß die USA Monica Lewinsky nur vorgeschlagen haben, um hinter den Kulissen des Impeachment-Theaters Zug um Zug ihr Streben nach Weltherrschaft umzusetzen. Die eher volkstümliche Version, Clinton habe mit den Bomben auf Bagdad nur von seiner Affäre ablenken wollen, hält der analytischen Sicht nicht stand – umgekehrt wird ein zwar alter, aber blankpolierter Schuh draus, mit dem wir wieder selbstbewußt durch das Gehege unserer sorgsam gepflegten Vorurteile stolzieren können. Kneipen- O-Ton: „Saddam Hussein mag ja ein Widerling sein, aber ist er nicht, Hand aufs Herz, weltweit einer der letzten Mohikaner im Kampf gegen die amerikanische Vorherrschaft?“

Wir pflegen unsere Klischees wie ein Kakteenfreund seinen Kaktus oder ein Philatelist seine Briefmarkensammlung. Wir benötigen sie wie die Luft zum Atmen und sind in unserer undurchschaubaren, ständig sich selbst widersprechenden Wirklichkeit heilfroh, wenn das, was wir als „gesichert“ annehmen, von Zeit zu Zeit seine halbe oder auch nur sein Viertelchen Wahrheit enthüllt. Meistens ist es dann doch nur ein Quentchen Wahrheit, und nicht einmal das, sondern allenfalls eine Chimäre – aber an dieser halten wir fest: Sonst würden wir nicht jedes Jahr wieder Weihnachten feiern oder am zweiten Januarsonntag zur Karl-und-Rosa-Demo pilgern. Wir müßten, wie Woody Allen, daran zweifeln, ob die Welt, so wie wir sie in unserem Kopf eingerichtet haben, überhaupt existiert.

Übrigens wäre auch die morgendliche Lektüre dieser Zeitung kein Vergnügen ohne den Kompaß unserer meist wissenschaftlich abgesicherten Vorurteile, der uns dabei hilft, uns durch das Chaos der Nachrichten und sogenannten Meinungen einen Weg mit Rückfahrkarte zu den eigenen zu bahnen. Klischeevorstellungen sind notwendige Fixpunkte und Haltegriffe im Leben und dienen als Ersatz für die magischen Weltbilder, die sich mit der fortschreitenden Zivilisation im Dunkel der Geschichte verloren haben.

Manche Klischees sind mediengestützt – ein Grund dafür, daß wir den Fernseher so ungern ausschalten: Es könnte uns ja eine Bestätigung unserer eigenen Blickperspektive entgehen. Andere Klischees sind witterungsbedingt und gleichzeitig mediengestützt – zum Beispiel freuen wir uns, daß im Wildbad Kreuth immer Schnee liegt, jedenfalls dann, wenn sich zum Jahresbeginn die CSU-Elite dort trifft. Wieder andere Klischees, die uns lieb und teuer geworden sind, sind teils medienbedingt, teils CSU-gestützt. So warten wir, kaum haben wir die Neujahrspost erledigt, ungeduldig darauf, daß im Wildbad Kreuth Theo Waigel oder Edmund Stoiber oder möglichst beide irgend etwas Kreuzreaktionäres von sich geben – und siehe, sie haben uns auch in diesem Jahr nicht enttäuscht. Die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts sei für die Republik gefährlicher, als es die RAF einmal war? Da ich Stoiber für einen intelligenten Mann halte, beschleicht mich der Verdacht, er habe „in Wirklichkeit“ meine Klischeevorstellung von der CSU ein bißchen verulken wollen.

Das ist ja gerade das Problem: Wir verlieren immer mehr den Überblick über die Wirklichkeit – nicht nur, weil wir den eigenen Wahnvorstellungen kaum mehr über den Weg trauen können, sondern auch, weil die Daten, auf die wir uns berufen, zu verschwimmen scheinen. Mit anderen Worten: Erst Stoibers Dementi würde mich davon überzeugen, daß er es ernst gemeint hat. Aber er dementiert einfach nicht. Folglich weiß ich nicht mehr, woran ich bin. Wie würde Woody Allen das sehen?

Oder nehmen wir Schröder. Vor der Wahl erweckte der Mann den Eindruck eines tatendurstigen Klempners, der nur darauf wartet, daß er den Hammer in die Hand bekommt, um alles mögliche gerade oder auch schief zu klopfen. Jetzt sitzt er einfach nur da, beguckt sich den Schlamassel und paßt auf, daß seine Leute nicht allzuviel verändern. Bin ich also einem Klischee aufgesessen? Ist doch klar, höre ich, Schröder war immer schon ein Undercover- Agent der Kohl-Politik. Aber möglicherweise ist auch das nur ein Klischee. Adorno schrieb noch von clichés, um die Distanz zu wahren und weil er die Dinger für diabolisch komplizierte Gebilde hielt, die mit den Messern der Ratio zum Einsturz gebracht werden können. Er hatte es einfacher, weil er letztlich immer den Faschismus meinte. Mit den Klischees in der Demokratie verhält es sich offenbar schwieriger. Die heutigen Sozialforscher erzählen uns von einer komplexen Welt, die nur mittels „Komplexitätsreduktion“ zu bewältigen sei. Diese Aufgabe nahm früher die Märchen erzählende Großmutter wahr. Heute sind es die Medien, also die Bilder vom Wildbad Kreuth oder die Kolumnen der taz, die für uns die Komplexität der Welt auf jenes Minimum reduzieren, das notwendig ist, damit wir uns einreden können, wir seien so weit im Bilde, daß wir uns von diesem und jenem distanzieren – und mit diesem und jenem identifizieren können. Da sitzt man schließlich ziemlich dumm da; wenn man schlau ist, sagt man sich allenfalls, daß man sich wieder einmal seine eigenen Klischees bestätigt hat.

Die Jahrhundert- und Jahrtausendrückblicke, die uns in den kommenden Monaten überschwemmen werden, verfolgen vor allem das Ziel, die Klischees, die wir über unsere Vergangenheit im Kopf haben, so zu stabilisieren, daß wir uns zukunftsfroh den neuen Ungewißheiten zuwenden können. Sie haben eine sozialtherapeutische Funktion. Realistischerweise sollten wir uns sagen: Über unsere Vergangenheit wissen wir wenig – über die Zukunft nichts. Doch dieser Realismus wäre unerträglich, er überfordert unseren Verstand. Wir brauchen Haltegriffe. Zum Beispiel Science- fiction-Filme, die uns von phantastischen Dingen in einer unerhörten Zukunft erzählen und mehr Klischees aufeinandertürmen als jedes andere Genre. Wir brauchen Stoiber, Waigel, Wildbad Kreuth, Kardinal Meisner und die Unscom, weil sie uns bestätigen, daß die Welt so, wie wir sie in unserem Kopf zusammengebastelt haben, tatsächlich existiert.