: Der Prophet besucht sein eigenes Land
Beim Indien-Besuch des bengalischen Nobelpreisträgers Amartya Sen, der „Mutter Teresa der Wirtschaftswissenschaft“, drängen sich plötzlich auch diejenigen um ihn, die früher nie etwas von ihm wissen wollten ■ Aus Delhi Bernard Imhasly
Eigentlich wollte Amartya Sen in Indien Ferien machen. „Ich will mich erholen, den Rhythmus des Lebens wiederfinden“, sagte er nach seiner Ankunft Mitte Dezember, sechs Tage nach der Verleihung des Nobelpreises und den zahllosen Interviews und Fototerminen. Doch es sollte nicht sein. Auf dem Flughafen von Kalkutta, wo der Bengale Sen wieder Heimatboden betrat, erwarteten ihn mehrere tausend Personen, und bei der Pressekonferenz kam es zu Handgreiflichkeiten zwischen der Polizei und Reportern, wobei einige Journalisten verletzt wurden.
Der etwas scheue Professor wußte nicht mehr, wie ihm geschah, als er im Gedränge kaum dazu kam, seine vorbereitete Erklärung zu verlesen. Vielleicht war er aber auch erleichtert, denn er war ohne seine Aktentasche angekommen. Sie war ihm samt Manuskripten für mehrere Reden und der Nobelmedaille auf dem Londoner Flughafen gestohlen worden. Zum Glück war die Medaille nur ein vergoldetes Doppel. Die echte wird ihm das Nobelkomitee in weiser Voraussicht nach Cambridge senden, wo Sen seit kurzem Rektor des Trinity College ist.
Der Tumult auf dem Flughafen von Dam Dam war eine gute Vorbereitung. Wo immer er in den nächsten zwei Wochen auftauchte – in Kalkutta, wo er studiert hatte, in Santiniketan, wo er geboren wurde, oder in der bangladeschischen Hauptstadt Dhaka, wo er einen Teil seiner Kindheit verbracht hatte – überall mußten Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden, damit Sen unverletzt die Bühne erreichte.
Für die Fahrt von Kalkutta nach Santiniketan stellte ihm die Eisenbahnbehörde einen Salonwagen zur Verfügung, um sicherzustellen, daß beim Empfang auf einem Seitengleis der Zugverkehr nicht gefährdet wurde. Ein Journalist zitierte Rabindranath Tagore, den ersten Bengalen, der 1913 den (Literatur-)Nobelpreis erhalten hatte: „Es ist fast so schlimm wie einen Hund mit einer Blechbüchse am Schwanz zu besitzen – bei jeder Bewegung gibt's einen Lärm.“ Der Bezug Sens mit dem großen Poeten und Reformer Tagore ging über den Preis und die gemeinsame Herkunft hinaus. Immer wieder zitierte er den Gründer der Universität von Santiniketan, wenn er auf sein Lieblingsthema zu sprechen kam – wie wichtig Erziehung sei für die Bekämpfung der Armut und wie schlecht Indien dabei abschnitt.
Amartya Sens Lehre ein Komplott des Westens?
Der riesige Publikumsandrang bei der Heimkehr des illustren Sohnes zwang die westbengalische Regierung, den offiziellen Empfang in das Cricket-Stadion zu verlegen, um die zehntausend Personen zu fassen, die dabeisein wollten. Regierungspräsident Jyoti Basu versprach feierlich, in seinem Unionsstaat bis zum Jahr 2002 den Schulbesuch zur gesetzlichen Pflicht zu erheben. Sen revanchierte sich mit der Ankündigung, das Preisgeld in eine Stiftung für Bildung und Gesundheitsversorgung in Indien und Bangladesch einzubringen.
Obwohl Sen ohne sein vorbereitetes Manuskript reden mußte, gab er eine allgemeinverständliche Darstellung seiner Spezialität, der „Wohlfahrtsökonomie“, für die er den Nobelpreis bekommen hatte. Allerdings konnte er es nicht lassen, den Kommunisten Basu daran zu erinnern, daß er wenig von Dirigismus hält, so erhaben die Sozialziele dabei sein mögen. Auch in Dhaka, wo ihm Bangladeschs Premierministerin die Ehrenbürgerschaft verlieh, appellierte er an die Entwicklungsländer, ihren Bürgern die „Freiheit der Wahl“ zu sichern. Sie sollten „den Pro-Markt- Dogmatismus nicht durch einen Anti-Markt-Dogmatismus“ ersetzen. „Ich war immer ein Skeptiker, wenn es um staatlichen Interventionismus ging.“
Jahrelang war Sen der Prophet gewesen, dessen Plädoyer für erhöhte Anstrengungen im Bildungswesen in seinem Land ungehört verhallt war. Nun, nach der Stockholmer Ehrung, war er plötzlich der Guru, „die Mutter Teresa der Wirtschaftswissenschaft“, und selbst Premierminister Vajpayee drängte sich darum, Sen zu empfangen und ihm zu versichern, wie recht er mit seinen sozialpolitischen Forderungen hat.
Die Einladung des Premiers war auch eine Entschuldigung für den Affront, den sich ein religiöser Fanatiker aus dem Umfeld der hindunationalistischen Regierungspartei BJP erlaubt hatte. Ashok Singhal, Generalsekretär des ultrachauvinistischen Welt-Hindu- Rats, sah im Nobelpreis an Sen ein Komplott des Westens, der Indien nur missionieren wolle. Den Beweis fand er ausgerechnet in Sens Einsatz gegen den Analphabetismus. Denn dies sei nur ein Trick, um Kinder in die christlichen Schulen zu treiben, wo die Missionare nur darauf warteten, sie zu taufen. Die nachhaltigste Zurückweisung dieser abstrusen These waren die zahllosen Menschen, die sich auf den Bahnhöfen drängten, um einen Blick von Sen zu erhaschen, als er von Kalkutta nach Santiniketan fuhr. Sie sahen in ihm einen Wissenschaftler, sagt der Soziologe Anand Kumar, der sich nicht scheute, ihre alltägliche Realität von Armut, Bildungsmangel und schlechter Gesundheitsversorgung ernst zu nehmen.
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