Bücher für Randgruppen
: Akrobatische Minderheiten

■ Leben in Zukunft und Vergangenheit: Die Rückwärtssprecherin und die gepflegte Tunte

Einerseits steht sie mitten im Leben, andererseits ist sie durch ihre ungewöhnliche Begabung irgendwie auch außerhalb der großen Mehrheit plaziert: Die Berlinerin Katja Nick spricht nämlich fließend rückwärts. In der niedersächsischen Stadt Celle geboren, führte ihr Weg schon bald nach Berlin, wo sie als Kind im KaDeWe zum ersten Mal eine fremde Sprache hörte und völlig von diesen Klängen fasziniert war.

Katja Nick konnte sich nicht satthören an all den rollenden Rrrs, an den unbekannten Zisch- und Kehllauten. Das folgenschwere Ergebnis des Ausflugs: Katja Nick nannte ihre Schulnachbarin zukünftig nur noch Adreg Hcstihcuarb. Alles, was ihr in den Weg kam, wurde von nun an konsequent rückwärts gelesen, erst einzelne Wörter, dann ganze Sätze, schließlich mehrstrophige Lieder und fremde Sprachen.

Da sie von ihrer Begabung nur partiell leben kann, bewirbt sie sich beim Auswärtigen Amt in Berlin und tritt nebenbei im „Kabarett der Komiker“ auf, das unter dem lustigen Programmtitel „Der Nachwuchs marschiert“ Unterhaltung in Kriegszeit bietet. Deutsch rückwärts gesprochen klang im Jahr 1940 sicher besonders erheiternd. Als Stenotypistin erlebt sie eine, wie sie sagt, folgenreiche und aufregende Nacht im Auswärtigen Amt: Der General Portnebbir (Ribbentrop) diktiert den Einmarsch der deutschen Wehrmacht nach Rußland, also den Beginn des Krieges im Osten.

Für Katja Nick heißt das Truppenbetreuung, eine Tournee im besetzten Norwegen 1942. Was die Norweger von den unerwünschten deutschen Besuchern halten, erfährt der interessierte Leser nicht, wohl aber, daß im Zug Schwedisch, Englisch, Russisch und Deutsch gesprochen wurden: „Alle Nationen saßen hier scheinbar friedlich zusammen.“ Das harmlose Foto einer dekorativen Samenfamilie, welches die Sprachkünstlerin aus dem Zug schießt, führt dann zu einer Vorladung bei der Gestapo in Tromsö – Verdacht auf Spionage. Sie grüßt den „unsympathischen Diensthabenden“ artig mit „Heil Hitler!“, was ihr anschließend untersagt wird.

Die Rückwärtssprecherin ist weit davon entfernt, eine kritische Zeugin ihrer Zeit genannt zu werden; in ihrer gerade erschienenen Autobiographie spielen vor allem sie unmittelbar persönlich betreffende Ereignisse eine zentrale Rolle: der Hungerwinter in Berlin, der Diebstahl ihres Rückwärtsgang-Tonbandgerätes, später ihre Reisen nach Indien und Japan, ihre Gagen und Fernsehauftritte bei Miw Ekleot (ein sehr herzlicher Mensch) und Divad namrettel (lachte laut). Die heute 80jährige Katja Nick stellt also vornehmlich eine akrobatische Sprachminderheit dar, ansonsten ist sie wohl ziemlich normal.

In eine zukünftige, noch zu kreierende Biographie führt dagegen die junge Autorin Penelope alias Marcus Brühl mit ihrem munteren Leitfaden ein. Nicht unbedingt vermuten läßt der Titel „Lebensansichten einer gepflegten Tunte“, daß der Verfasser selbst gerade mal 23 Jahre alt ist. Eine gewisse trotzige Abgeklärtheit findet sich dann auch in den einzelnen Kapiteln wieder. Neben diversen Schmink- und Kochtips (Walnuß-Salat Christian) und einer hübschen Porträtserie werden auch theologisch-philosophische Exkurse zum Thema Lust und Gott unternommen: „Warum soll das Universum solch eine Anstrengung auf sich nehmen, urzuknallen und dann zu sein?“

Ob das Transgender-Spiel von Penelope/Marcus Brühl die Fortsetzung von Judith Butlers Theorie der Geschlechteridentität in einer subversiv-narzißtischen Variante ist oder als ein erster Schritt in die Welt der Unterhaltungskunst gedeutet werden kann, wird sich in der Zukunft zeigen. Wolfgang Müller

Katja Nick: „Durch ,Rückwärts‘ vorwärts“. Wiesjahn-Verlag, direkt vom Internationalen Artistenmuseum, 16348 Klosterfelde, für 19,90 DM

Penelope: „Lebensansichten einer gepflegten Tunte“. quer-Verlag, 29,80 DM