Auch Demokratie kann bösartig sein

■ Fotos des berühmten Sebastiao Salgado erinnern an die Lebensbedingungen der Chancenlosen

Oh, Salgado kommt, flüsterte unsere Fotografin ehrfurchtserweicht, als die Ankündigung vom Staatsarchiv ins Haus flatterte; um dann schnell hinzuzufügen, daß sie dem legendären Dokumentaristen der brasilianischen Gruben- und Plantagenarbeiter nur bedingt ihre Zustimmung gönnt. Weil angstschwangere Kinderaugen nicht ohne Liebreiz aus seinen Fotos gucken, ist das prominente Mitglied der Pariser Fotoagentur Magnum nicht unumstritten. Aber was kann der Brasilianer dafür, daß westliche Betrachter kargen Hütten einen gewissen Charme abgewinnen können, daß uns drecksbeschmierte Gesichter von Grubenarbeitern, Zehennägeln, die von ausgedörrter Erde aufgerissen sind, und Augen, die im Überarbeitungsstumpfsinn irrsinnig geworden sind, innig-sentimental stimmen? Was kann Salgrado dafür, daß unser Anspruch an Elendsdarstellung durch TV-Nachrichten härter geworden ist?

Zehennägel, Hütten und Augen aus seinem Fotobuch „Terra“ (2001.Verlag, 1997, 40 DM) schickt Salgado um die Welt, um durch Ausstellungsgebühren die „Bewegung der Landlosen Brasiliens“ (MST) zu unterstützen. Natürlich gab er dafür nicht teuer gehandelte Originalabzüge frei, sondern Drucke der Fotos in Originalgröße. Die sind allerdings sehr gut.

Zur Eröffnung erzählte der brasilianische Franziskanerpater Erico Hickmann von der MST. Er erzählte vor vier Leuten. Offensichtlich kann heute nicht einmal eine etablierte Institution wie das BIZ, Veranstalter der Ausstellung, Interesse an der Dritten Welt wecken. Hickmann erzählte, daß 1 % der Bauern 44 % des Bodens besitzen. Daß manche dieser Großgrundbesitzer Hektarmillionäre sind. Daß sich der größte Besitz auf 4 Millionen Hektar beläuft, immerhin 40.000 qkm oder 400x100 km. Daß die 53 % ärmsten Bauern dagegen nur 3 % Boden beackern. Daß Erde, die von Kleinbauern bewirtschaftet wird, fünf- bis zehnmal ertragreicher ist als Land in der Hand von Großgrundbesitzern. Daß Brasilien eine Demokratie ist. Aus diesen spröden Tatsachen zieht Pater Hickmann kluge Schlüsse: Nicht jede Demokratie vertritt die Interessen der Mehrheit. Eine Demokratie kann genauso abstoßend funktionieren wie eine Militärdiktatur. Die Adam-Smith-These, daß Privateigentum die größte Effektivität garantiert, ist falsch. Der Profit der Großgrundbesitzer ist nämlich ein ideeller: Sie sind stolz auf ihr Land. Effektive Bodennutzung interessiert sie nicht die Bohne, nicht den Reis. Daß weite Teile brachliegen, während 32 Millionen Brasilianer hungern, ist ihnen komplett egal. Verpachtung an Kleinbauern würde nur Arbeit und Ärger machen. Zwar ermöglicht die brasilianische Verfassung Enteignung, wenn ein Land nicht bewirtschaftet wird, doch die Kluft zwischen Recht und Rechtbekommen ist in Brasilien unendlich wie das Land.

Pater Hickmann lokalisiert die Grenze des Klassengegensatzes nicht zwischen Arm und Reich, sondern zwischen Personen, die im System politisch repräsentiert sind, und der Mehrheit der Ausgeschlossenen. Die MST ist für ihn auch als Beispiel interessant, als Modell, wie die Kaste der Ausgeschlossenen ihre Stimme zurückerobert. Um wahrgenommen zu werden, machen sie Protestmärsche in den Städten. 823 Schulen und 70.000 Kindergärten wurden in Eigenregie gegründet. Nur dann ist jener Sklavenmentalität beizukommen, die viele Arme noch immer dankbar sein läßt auch für die allermieseste Entlohnung. Deshalb arbeitet MST am Aufbau eines zweiten, autonomen Marktes, irgendwie analog zur Dependenztheorie, die Präsident Cardoso theoretisch vertreten und praktisch verraten hat. Doch noch immer wählen die Ausgebeuteten ihre Peiniger, weil ihnen genau wie bei uns gedroht wird, daß ohne Schweinereiche alles nur noch schlimmer wird. Solchen Irrglauben durch Bildung zu bekämpfen, hält Pater Hickmann für viel wichtiger als die eine oder andere Stromleitung. Deshalb kritisiert er die herrschende Entwicklungshilfe, die vornehmlich auf Infrastruktur setzt als unpolitisch.

In seinem Vorwort zu „Terra“ beschreibt der berühmte Romancier Saramago wie die brasilianische Demokratie über Versprechungen funktioniert, die nicht eingehalten werden. Wie Collor de Mello und Hamar Franco schwor auch Henrique Cardoso Landarbeiter anzusiedeln und stört sich heute nicht an den mörderischen Paramilitärs, die im Auftrag der Großgrundbesitzer Landbesetzer der MST vertreiben. Anders als in der Ausstellung folgen im Fotobuch auf eine Reihe sehr intimer Einzelporträts zwei Bilder von Massenprotesten. Dazu schreibt Salgado in seinen ellenlangen Bildlegenden: „Der unterdrückte Schrei der Landlosen schallt wie aus einer Kehle in den klaren neuen Tag: Landreform – Ein Kampf von allen!“ In Bremen hörten ihn vorgestern vier Menschen.

Barbara Kern

Bis 28.2. im Foyer des Überseemuseums und im Saatsarchiv. 4.2. Vortrag zur Geschichte der MST im Überseemuseum