Wo die Guerilla Langusten speist

Kolumbien gilt nicht unbedingt als Reiseland, es macht vor allem durch Entführungen und Kämpfe zwischen Paramilitärs und Guerilla Schlagzeilen. Der karibische Teil des Chocó im Nordwesten Kolumbiens ist noch ziemlich menschenleer. Eine Reise dorthin, wo Christoph Kolumbus sich frisches Wasser holte und Sir Francis Drake von seinen Raubzügen ausruhte, gilt als Abenteuer. Doch die Guerilleros, Paramilitärs und Schmuggler lassen sich genauso selten sehen wie die wilden Tiere des Urwalds  ■ Von Werner Hötner

Man müßte nicht unbedingt den Bus nehmen, um von Medellin nach Turbo, der lauten, staubigen Hafenstadt am Golf von Urabá, zu gelangen, doch es ist eben angenehmer, sich langsam einem Reiseziel zu nähern. Und die Langsamkeit ist hier garantiert, denn die aus lauter Kurven bestehende Straße – die Verbindung zu diesem Teil der kolumbianischen Karibik wurde erst in den fünfziger Jahren hergestellt – läßt keine größeren Geschwindigkeiten zu.

Menschliche Ansiedlungen werden immer seltener, und plötzlich scheint der Erdboden alles verschluckt zu haben: lange Zeit keine Orte, keine Autos, keine Menschen. Wie es in Alpenwäldern manchmal nach Schwammerln riecht, so ist hier die Guerilla förmlich spürbar. Zu beiden Seiten der Straße hohe bewaldete Berge, in dichte Wolken gehüllt, die fast bis ins Tal herunterhängen – ein idealer Aufenthaltsort für die Aufständischen. Und deren gibt es genug in Kolumbien. Die zwei größten Guerillabewegungen, FARC und ELN, halten zusammen an die 15.000 KämpferInnen unter Waffen.

Da ist sie schon, die Straßensperre. Ein Armeeposten, denke ich angesichts der Gruppe von Uniformierten, doch als eine schwarzhaarige Soldatin den Bus besteigt, wird es klar: die FARC. Nur bei ihnen, den „Revolutionären Streitkräften Kolumbiens“, besteht ein Viertel der Truppen aus Frauen. Die Soldatin inspiziert die Insassen des Busses, plaudert in freundlichem Ton mit einigen. Niemand wird mitgenommen. Ist das eine Folge des Friedenslüftchens, das derzeit durch Kolumbien weht? denke ich. Vor eineinhalb Jahren waren nicht unweit von hier, im Naturschutzpark Los Katios, vier Rucksacktouristen, zwei Deutsche und zwei Österreicher, von einer FARC-Einheit entführt und vier Wochen festgehalten worden. Bei einer Kampfhandlung mit der Armee kamen dann zwei von ihnen ums Leben. Von welcher Seite die tödlichen Kugeln stammten, konnte nie geklärt werden. Erst jüngst machte die Entführung eines deutschen Touristen durch die ELN Schlagzeilen. Der Deutsche Ottmar Broda wurde allerdings im südlichen Bergland Kolumbiens entführt, in der Nähe von Popayan. Am 8.Januar wurde er nach achtwöchiger Gefangenschaft wieder freigelassen.

Nach höchstens sieben Kilometern neuerlich eine Straßensperre, eine weitere einige Kilometer von Turbo entfernt, auf der anderen Seite des Urabá-Golfes, auf der Straße, die zur Grenze nach Panama führt. Wenige Häuser, von denen ein paar Unterkunft und Verpflegung anbieten. Von hier gelangt man in einer Stunde Fußmarsch landeinwärts in die Reserva Integral Sasardi, einen von einigen ökologisch bewußten Aussteigern aus Medellin gegründeten Naturschutzpark. Gegenwärtig leben acht Leute ständig dort. Betty, die Gründerin der Enklave, hatte vor vierzehn Jahren – sie war damals fünfzehn – den radikalen Entschluß gefaßt, Schule, Familie, Freunde in Medellin zurückzulassen und hierherzuziehen. Zwei Jahre lang lebte sie ganz allein im Urwald, bis sich langsam eine kleine Gruppe von – vor allem männlichen – Umweltschützern sammelte, die später die „Stiftung Darién“ gründeten. Gäste erhalten Unterkunft, Verpflegung und sympathische Gesellschaft von den Mitgliedern der kleinen Kolonie. Und in den Bäumen tummeln sich Kapuziner- und Brüllaffen, deren markantes Geschrei Tag und Nacht durch den Urwald dringt.

Spaßvögel haben Triganá auch Sal-si- puedes genannt – etwa „Fahr weiter, wenn du kannst“, und das nicht zu Unrecht. Einmal täglich, am Vormittag, kommt das Boot von Turbó und fährt nach Capurganá weiter, nahe der panamaischen Grenze. Wenn die Pachanga allerdings voll ist und niemand in Triganá aussteigt, so kann man erleben, daß das Boot vor der Bucht seelenruhig vorbeifährt. Und auf den nächsten Vormittag warten.

Weitere eineinhalb Stunden Bootsfahrt nach Capurganá, immer die dichtbewaldete, manchmal von langen Sandstränden unterbrochene Küste entlang. Kurz vorher legt das Boot in Acandi an, dem größten Ort im karibischen Chocó. Vor zwei Jahren lebten hier noch 6.000 Menschen, heute ist es ein Drittel weniger. Keine Naturkatastrophe, sondern politisches Kalkül steckt hinter diesem Bevölkerungsrückgang. Von Großgrundbesitzern und allen möglichen „obskuren Kräften“ aufgebaute paramilitärische Gruppen vertreiben – oder ermorden – alle, die sie der Zusammenarbeit oder Sympathie mit der Guerilla verdächtigen. Oder auch nur, um einen Landstrich völlig zu „säubern“, das heißt menschenleer zu machen. Dahinter stehen wirtschaftliche Interessen, munkelt man, doch niemand weiß Genaues. Journalistische Recherchen enden nicht selten in der Leichenhalle.

Capurganá – „Land der Pfefferschoten“ in der Sprache der indianischen Urbevölkerung – ist der Ort mit der besten touristischen Infrastruktur der karibischen Chocó-Küste. Am Hauptplatz, der von einem Fußballfeld bedeckt ist, kann man beobachten, wie am anschließenden Flugplatz Maschinen aus Medellin, Cali, Bogotá und Cartagena landen, vor allem an verlängerten Wochenenden. Vom protzigen Fünfsternehotel Alcazar bis zu einfachen Pensionen und kleinen bis mittleren Wohnhäusern am Strand ist hier alles verfügbar. Am Abend kann man Souvenirs einkaufen. Vor allem die berühmten Textilien der Kunas mit ihren markanten Stoffmustern. Oder besser gesagt der Tule, wie sich dieses Volk – eine der 84 indianischen Ethnien Kolumbiens – selbst nennt. Bis Ende des vorigen Jahrhunderts lebten sie ganz allein hier, dann wurden sie von den großenteils schwarzen kolumbianischen „Pionieren“ – selbst Vertriebene – verjagt. Die letzten flüchteten in den vierziger Jahren auf die der panamaischen Küste vorgelagerten San- Blas-Inseln. Dort kann man sie heute von Capurganá aus im Rahmen einer Motorbootexkursion besuchen.

Bei den gastronomischen Spezialitäten stehen natürlich die Früchte des Meeres im Vordergrund – Fische, Garnelen, Langusten –, häufig begleitet vom hier köstlich zubereiteten patacón pisao, plattgedrückten und herausgebackenen Scheiben der Kochbanane, und Kokosreis. Oder die cigua, eine kleine Schnecke, zu deren Ehren alljährlich im Oktober ein Festival mit viel Tanz und Rum und natürlich der Wahl einer Schönheitskönigin stattfindet.

Capurganá bietet sich auch für einige Wassersportarten und zum Tauchen an; die entsprechenden Geräte können ausgeliehen werden. Am ruhigsten ist das Meer zwischen Mai und November.

In zehn Minuten Entfernung per Motorboot oder, noch schöner, auf einem knapp zwei Stunden langen Weg durch den Urwald gelangt man zur letzten und zauberhaftesten Station auf diesem kolumbianischen Küstenstrich: Sapzurro. Ein ruhiges Dorf mit 250 Einwohnern, an einer kreisrunden Bucht liegend. Die meisten BesucherInnen kommen nur auf einen Sprung hierher, von Capurganá aus, und wandern vielleicht noch eine knappe Stunde lang in den panamaischen Grenzort La Miel – doch es gibt auch Möglichkeiten, ein Holzhäuschen zu mieten. Etwa bei Caliche, einem arbeitsamen Zuwanderer aus Medellin, der es bereits auf drei Motorboote gebracht hat. Die Häuschen sind einfach: ein betonierter Boden, ein auf ein paar Pfosten ruhendes Palmblattdach und die Seiten bis Brusthöhe mit Brettern verdeckt, um ein bißchen Intimität vorzutäuschen. Ansonsten ist alles offen. Türen braucht man hier keine, niemand wird etwas stehlen. Auch das ist Kolumbien.

Sapzurro ist in mehrfacher Hinsicht ein Traum. Die Lage, der gepflegte ruhige Ort, die Möglichkeit zu Strand- und Dschungelwanderungen. Kolumbus soll in dieser Bucht vor Anker gegangen sein und sich beim Wasserfall La Diana, zehn Minuten vom Strand entfernt, gelabt haben. Und später errichtete der gefürchtete und aufgrund seiner Verdienste geadelte Seeräuber Sir Francis Drake hier einen Stützpunkt mit einer Befestigung, die er Fuerte Faisán nannte. Heute noch kursieren Gerüchte über versunkene Schiffe mit Goldladungen.

Die Magie des Ortes lebt bis heute weiter, denn nun kommen die Führer der in der Nähe operierenden Guerillas und von deren Todfeinden, den Paramilitärs, hierher – allerdings nicht, um zu kämpfen, auch nicht, um zu verhandeln, sondern um Langusten und Shrimps zu essen.

Wie in Capurganá gibt es auch hier keine Indios mehr. Die einheimische Bevölkerung besteht nunmehr aus den Angehörigen der zwei Großfamilien Berrios und Caraballo, deren Vorfahren zu Beginn des Jahrhunderts hierherkamen. Damals herrschte die Tagua-Bonanza. Man hatte herausgefunden, daß man aus der Substanz dieser etwa kinderhandtellergroßen Palmfrucht – wegen ihrer Härte auch „vegetabiler Marmor“ genannt – Knöpfe machen kann, und so ging der Run auf die Tagua-Palmen los. Die Samen wurden vor allem nach Deutschland und England exportiert, dort zu Knöpfen und Broschen verarbeitet und dann wieder nach Lateinamerika ausgeführt.

Später war die Kokospalme die wichtigste Einnahmequelle der Region, bis ein Schädling zu einem allgemeinen Palmensterben führte. Heute dürften die Brosamen, die vom Capurganá-Tourismus für Sapzurro abfallen, das Haupteinkommen des Ortes darstellen.

Ein Vordenker eines angepaßten, sanften Tourismus für Sapzurro war der vor drei Jahren verstorbene Claretianerpater Alcides Fernández. Seine Idee war, den Familientourismus zu fördern. Nach Möglichkeit sollte jede Familie, jedes Haus ein Zimmer vermieten. Überhaupt war dieser Pater, der vor etwa dreißig Jahren als Missionar in die Region kam und zum Schluß als Pfarrer in Sapzurro lebte, die beherrschende intellektuelle Person des ganzen karibischen Chocó. Er war schon zu Lebzeiten eine Legende, allseits geachtet und beliebt. Pater Alcides war ein begeisterter Flieger, der mit seiner kleinen Maschine die wildesten Loopings drehte – dreimal stürzte er über dem Dschungel ab.

Der Pater war auch ein beachtlicher Denker und Philosoph, der seine Gedankenwelt in zwei Büchern niederschrieb. Im letzten, kurz vor seinem Tod 1995 erschienenen, „Mundo Nuevo a la Vista“, betont er die Notwendigkeit eines umfassenden Paradigmenwechsels in praktisch allen Bereichen des menschlichen Denkens – wobei er die katholische Kirche nicht ausnimmt. Eine zentrale These der Gedankenwelt des Padre Alcides Fernández war, daß im Mittelpunkt unseres Strebens die qualitative Entwicklung des Menschen und nicht die quantitative Entwicklung der Güter stehen sollte.

Bevor der Pater starb, verabschiedete er sich brieflich von allen seinen Freunden und nahen Bekannten. Er ließ seinen Bauchspeicheldrüsenkrebs nicht schulmedizinisch behandeln, sondern stellte, als sein Zustand kritisch wurde, die Nahrungsaufnahme ein und verstarb nach einer Woche. Heute ist der Flughafen von Acandi nach dem Padre Alcides benannt, ebenso Straßen in mehreren Dörfern.

Ein unvergeßliches Erlebnis ist das fast allabendliche Wetterleuchten über dem Golf von Urabá. Wie eine Dschungel- Disco: Die Lichtreflexe zucken unablässig über den Horizont, erleuchten das Firmament, lassen es für wenige Sekunden in Dunkelheit zurückfallen, erleuchten es neuerlich. Und ab und zu durchquert ein greller Blitz das Blickfeld, in verschiedenster Form: als dickes Energiebündel, als feinverästeltes Laubwerk, als in sich geschlossene Schlange. Eine großartige Abendunterhaltung.

In einer halben Stunde erreicht man von Sapzurro aus zu Fuß auf dem Grat eines knapp zweihundert Meter hohen Bergkamms die Staatsgrenze von Kolumbien. Diese existiert seit 96 Jahren: 1903 hatten die Vereinigten Staaten die Regierung in Bogotá gezwungen, einen Teil ihres Territoriums als Panama in die Unabhängigkeit zu entlassen, um dann dort den interozeanischen Kanal zu errichten. (Mehr als ein Jahrzehnt später erhielt Kolumbien von den USA 25 Millionen Dollar Entschädigung für das verlorene Gebiet.) Ein einfacher Grenzstein erinnert daran, daß hier die Republik Panama beginnt. Einen steilen Weg hinunterkletternd – der nur in trockenem Zustand begehbar ist –, erreicht man La Miel, den ersten Ort in Panama. Man sucht vergeblich nach Zeichen, die auf ein anderes Land hinweisen. Grenzkontrollen gibt es nicht, auch keinen Grenzposten. Wer schmuggelt, benutzt die traditionellen Pfade weiter im Landesinneren oder den Seeweg, doch angesichts der Globalisierung des Preisgefüges gibt es nicht mehr viele Güter, die zu schmuggeln sich lohnt.

Von Sapzurro aus gibt es immer zweimal wöchentlich die Möglichkeit, mit einem Fracht- oder Passagierschiff in zwanzig Stunden nach Cartagena zu fahren. Ein empfehlenswerter Übergang von einer Welt, in der viele Uhren anders gehen, zurück in die Welt der Asphaltstraßen, der Autos, der Handys – kurz, in die Welt unserer Zivilisation.

Werner Hörtner arbeitet als Redakteur bei der österreichischen Zeitschrift Südwind