Ein Land im Ausnahmezustand

Noch hat Rumäniens Präsident den Notstand nicht verhängt. Doch hat der Konflikt mit den protestierenden Bergarbeitern das Land ins Chaos gestürzt  ■ Aus Bukarest Keno Verseck

„Rumänien?“ titelt schlicht und über die ganze Seite eine Bukarester Boulevardzeitung. Der Hintergrund ist schwarz, die Buchstaben sind mit Bildern von Straßenkämpfen, triumphierenden Bergarbeitern und von verletzten Polizisten ausgefüllt.

Während sich die Ereignisse überstürzen, geht das Leben in der rumänischen Hauptstadt weiter wie an jedem anderen Tag auch. Die Bukarester kaufen ein, lassen ihre Autos waschen oder stehen zu Hunderten vor den städtischen Finanzbehörden Schlange, um Steuern zu bezahlen. Nur wer genau hinschaut, entdeckt die Veränderungen. In manchen Schaufenstern fehlen Waren. Fast alle Gespräche auf der Straße drehen sich um die Bergarbeiterrevolte und darum, ob die Kumpel in Bukarest einfallen und die Stadt verwüsten oder nicht. Die Worte „Katastrophe“ und „Desaster“ sind immer wieder herauszuhören, viele Menschen haben bedrückte Gesichter.

Wie sooft, wenn es in Rumänien zu Chaos und Wirren kommt, machen Gerüchte und Szenarien die Runde, verwischen sich Fakten und Spekulation zu einem Nachrichtenbrei mit seltsamem Geschmack: Die Sicherheitskräfte sollen insgeheim mit den randalierenden Bergarbeitern paktiert haben, um ihnen einen Durchbruch in Richtung Bukarest zu verschaffen. Von Sabotage im Innenministerium ist die Rede, von Informanten, die die Bergleute über die Pläne der Regierungstruppen aufklären. Der Schutz- und Wachdienst des Staatspräsidenten Emil Constantinescu soll bereits alle Vorbereitungen für dessen mögliche Flucht aus seinem Bukarester Amtspalast getroffen haben.

Wenn der Staatspräsident und die Regierung gestern auch noch zögerten, den Ausnahmezustand erklären – Rumänien lebt bereits im Ausnahmezustand. Die Bergarbeiter haben bei ihrem gewaltsamen Marsch auf die Hauptstadt seit vergangenen Montag mehr als die Hälfte der Strecke bewältigt und stehen 150 Kilometer vor Bukarest in der Stadt Rimnicu Vilcea. Sie glich gestern einem befreiten Gebiet. Tausende von Bergarbeitern hatten sich im Zentrum des Orts versammelt und forderten immer wieder: „Bukarest! Bukarest!“ Nur eine Handvoll Polizisten und Gendarmen hielt sich noch im Ort auf.

Für die staatliche Ordnungsmacht bedeuteten die Auseinandersetzungen vom Donnerstag ein vollkommenes Scheitern. Offenbar ohne Koordination geblieben, wurden Tausende von Polizisten und Gendarmen schlicht von den Bergarbeitern überrannt und Dutzende zeitweise als Geiseln genommen. Die Bilanz am Abend waren mehr als 120 Verletzte, die meisten davon Polizisten und Gendarmen. Unter ihnen befinden sich auch acht Schwerverletzte und ein Polizist, der mit einem Schädelbasisbruch im Koma liegt.

Für Gewerkschaften und Vertreter von Bürgerorganisationen waren die Ereignisse der Augenblick des Aufwachens. Mehrere Gewerkschaften setzten seit längerem angekündigte Streiks aus, andere verurteilten die von den Bergarbeitern provozierten Auseinandersetzungen. In Bukarest und in den siebenbürgischen Städten Temesvar (Timisoara) und Kronstadt (Brasov) demonstrierten erstmals einige tausend Menschen gegen die Bergarbeiter und riefen zur Verteidigung des Rechtsstaates und der Demokratie auf.

Auch auf Seiten der parlamentarischen Opposition schwand die Unterstützung für die Bergarbeiterrevolte. Praktisch im letzten Augenblick und auf Ersuchen von Staatspräsident Emil Constantinescu schlossen die Regierungsparteien mit der linksnationalen „Partei der sozialen Demokratie“ des ehemaligen neokommunistischen Staatspräsidenten Ion Iliescu und einer anderen nationalistischen Oppositionspartei am Donnerstag abend eine Übereinkunft zur Verteidigung des Rechtsstaats.

Überraschend kam dabei vor allem, daß die Illiescu-Partei ihr Einverständnis für eine mögliche Ausrufung des Notstands gegeben hat und außerdem die Regierung zumindestens teilweise in ihrem Bestreben unterstützt, den Konflikt beizulegen. Die Partei der sozialen Demokratie hatte bisher Verständnis für den Streik der Bergarbeiter bekundet, zunächst auf den Rücktritt der Regierung und vorgezogene Neuwahlen spekuliert und zuletzt vorgeschlagen, ein neues Kabinett aus parteiunabhängigen Technokraten einzusetzen. Doch die Führung der Iliescu- Partei und insbesondere der gegenüber den jetzigen Machthabern von Rachegefühlen beherrschte Ion Iliescu haben nun offenbar eingesehen, daß auch sie nur verlieren, wenn Rumänien ins Chaos stürzt.

Allein der Chef der faschistischen „Groß-Rumänien“-Partei, Corneliu Vadim Tudor, führte seine Kampagne für ein totalitäres Regime weiter fort. Als das Parlament gestern auf einer außerordentlichen Sitzung über die Lage im Land debattierte, lieferte er einen hysterischen Auftritt, der diesmal selbst Goebbels zur Ehre gereicht hätte. Tudor erklärte die revoltierenden Bergarbeiter zu Volkshelden, rief dann zum Sturz der Regierung auf und schloß mit den Worten: „Es lebe Groß-Rumänien!“