Zog sich hoch, rutschte ab...

■ Dieter Forte erhält morgen den auf 30.000 Mark dotierten Bre-mer Literaturpreis für die Umformung von Schmerz ins Wort.....

Ein Buch, das schmerzt – auch wenn (oder gerade weil), die Grausamkeit so beiläufig beschrieben wird. Mai 1945, Frieden. Ein zehnjähriger Junge vegetiert, von Hunger, Kälte und Fieber geschüttelt, in einem verfallenen Kellerraum vor sich hin. Er leidet unter Astma. Ans Bett gefesselt, kann er das Treiben auf der Straße nur aus dem Fenster verfolgen. Dem Großvater verspricht er, alles aufzuschreiben. Die Bilder sind quälend, gespenstisch: „Vor seinem Fenster knickte eine Frau ein, saß erschrocken mit weit geöffneten Augen auf der Straße, japste nach Luft, riß sich den Schal vom Hals, versuchte noch einmal, auf die Beine zu kommen, fiel wieder hin, übergab sich, zog sich, von oben bis unten verschmiert, an einer Mauer hoch, rutschte ab, drehte sich wie ein sterbender Vogel, der noch einmal mit den Flügeln zuckt, um sich selbst, lag dann ruhig. Gestalten krochen aus den Kellerlöchern, hockten sich um die Frau, warteten ab, ob sie sich noch einmal bewegte, stießen sie mehrmals an, dann zogen sie ihr die Schuhe aus, zerrten ihr den Mantel vom Leib, verschwanden mit den Sachen, die Frau lag auf dem Rücken in einer weißen Bluse und einem schwarzen Rock, als käme sie von einer Beerdigung und wolle sich nun ausruhen.“ Normalität nach Kriegsende.

Doch es gibt eine andere Seite. Es regiert das Chaos, „und die Menschen fanden sich gut darin zurecht, sie bemerkten, daß das so verschriene Chaos auch seine Regeln hatte“. Gesetze und Verordnungen gibt es nicht. „Wer nach dem Gesetz rief, wurde für verrückt erklärt.“

Forte wurde am 14. Juni 1935 in Düsseldorf geboren. Nach einer kaufmännischen Lehre schrieb Forte erste Erzählungen für Zeitungen und Zeitschriften. 1960 ging er an das Düsseldorfer Schauspielhaus. Er schrieb Hör- und Fernsehspiele. Die Uraufführung seines Stückes „Martin Luther & Thomas Müntzer oder Die Einführung in die Buchaltung“ 1970 war ein Welterfolg.

Der Schriftsteller stammt von deutsch-französischer Seidenwebern, die als Hugenotten nach Deutschland flüchteten, ab. Auch polnische Bergarbeitern, die ins Ruhrgebiet verschlagen wurden, weil sie dort Arbeit fanden, gehören zu seinen Ahnen. Bis ins Mittelalter hat Forte seine Vorfahren anhand von Kirchenbüchern zurückverfolgt und ihre Geschichte in einer Trilogie verarbeitet. Im dritten Teil „In der Erinnerung“ fügt sich alles zu einem Roman, zu einer faszinierende Familiengeschichte, die 1133 in Palermo beginnt und in den Trümmerlandschaften des zweiten Weltkrieges endet (Das Muster 1992, Der Junge mit den blutigen Schuhen, 1995). Alles ist eine Geschichte, eine lange, sich wiederholende Geschichte.

„In der Erinnerung“ straft Dieter Forte die hemdsärmelige Verklärtheit vieler Erzählungen über die Nachkriegszeit Lügen. Forte hat sich seine Kindheitserlebnisse von der Seele geschrieben – manchmal getrieben „wie im Fieber“, manchmal unterbrochen von „Abstürzen“, wenn die Erinnerung ihn krank werden ließ. Und er hat damit ein Buch geschrieben, das ohne Übertreibung wohl zu den bedeutensten Romanen der deutschen Nachkriegsliteratur gehört.

Kerstin Schneider

Lesung und Gespräch, Forte und Hermann, heute abend, 19.30 Uhr, Theater am Goetheplatz, Goetheplatz 1-3.

Verleihung des Preises, morgen, 12h, Obere Rathaushalle