Das Leben im geteilten Land

■ Der Verlag Vanderhoeck & Ruprecht legt mit dem Südosteuropa-Handbuch die erste umfassende Darstellung Zyperns im zwanzigsten Jahrhundert in deutscher Sprache vor

Landeskundliche Bücher bergen immer die Gefahr der Einseitigkeit. Innenpolitische Entwicklungen sind nur schwerlich wissenschaftlich „objektiv“ zu betrachten. Das gilt schon für Rom unter Kaiser Nero, wo man erst jüngst nach knapp 2.000 Jahren zu völlig neuen Bewertungen kam. Auswahl der Fakten und deren Wertung unterliegen schließlich nicht nur wissenschaftlichen Kriterien, sondern auch den ganz persönlichen Einschätzungen des Autors. Allein, wer solche Werke liest, weiß um dieses Problem – und deswegen ist es in der Regel auch keines.

Je kleiner das Land, desto größer die wissenschaftlichen Probleme. Mit ganz besonderen Schwierigkeiten hatten sich die Autoren des voluminiösen Zypern-Bands aus der Südosteuropa-Reihe des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht herumzuschlagen. Zypern ist faktisch geteilt. Die meisten griechischen Zyprer der Republik betrachten den Norden ihrer Insel als türkisch besetzt und erklären das dortige Regime und seine Institutionen von der Radiostation bis zum kleinsten Dorfbürgermeister für illegal.

Ein Teil der nördlichen Bewohner Zyperns wiederum glaubt, einen eigenen Staat errichtet zu haben und lehnt den Alleinvertretungsanspruch des Südens strikt ab. Für die einen ist die Grenze zwischen beiden Gemeinschaften eine vorläufige Demarkationslinie, für die anderen eine unabänderliche Staatsgrenze. Zwischen Süd- und Nord-Nikosia herrscht der Kalte Krieg. Wo bleibt da die geforderte Objektivität?

Um es vorwegzunehmen: Den Herausgebern und den meisten Autoren des Buchs gebührt das große Verdienst, sich zwischen alle Stühle gesetzt zu haben. Von Versuchen der Beeinflußung von außen ist im Vorwort zu lesen, ihre Benennung mit Namen und Adresse (Botschaft der Republik Zypern in Bonn) läßt zunächst zunächst befürchten, die Herausgeber hätten sich von der türkischen Seite vereinnahmen lassen. Das ist keineswegs der Fall.

Um auf die leidige „Objektivität“ zurückzukommen: Selbstverständlich lassen die Beiträge bisweilen Sympathie für die eine oder andere Seite erkennen. Warum auch nicht? Fakten können so oder so beurteilt werden, und wenn im Zypernkonflikt die Mehrheit der Beobachter davon ausgeht, daß die Türkei dort im Jahre 1974 nicht aus Gründen tiefster Humanität für ihre muslimischen Landsleute im Rahmen einer angeblichen „Friedensoperation“ einmarschiert ist, wird an diesem Urteil wohl etwas dran sein.

Die Herausgeber haben sich nicht gescheut, auch einheimische Autoren zu Wort kommen zu lassen. Dieses vermeintliche Risiko der Einseitigkeit entpuppt sich tatsächlich als Stärke. Bei einer so umfassenden Darstellung wie hier kommt man um Spezialisten nicht herum – allemal besser, als wenn ausländische Professoren ihre abendlichen Eindrücke von der Musikszene in Nordzypern als Wissenschaft verkaufen wollten. So ist aus dem Handbuch viel mehr als ein Handbuch geworden: Tatsächlich liegt die erste wirklich umfassende Darstellung Zyperns im 20. Jahrhundert in deutscher Sprache vor. Von der Bildenden Kunst bis zur Wasserversorgung, von der Verfassung bis zu den Wahlergebnissen seit 1959 reicht das Spektrum. Allerdings kranken manche Beiträge daran, daß zwar viele Daten genannt werden, eine ausführliche Analyse dieser Zahlen aber unterbleibt.

Es sind weniger die Spezialkapitel, die das Buch auszeichnen, auch wenn dadurch eine bisher in einem Band nicht erreichte Informationsfülle entstanden ist. Vor allem aber in den Beiträgen zur zyprischen Gesellschaft wird detailliert die Entwicklung von einer traditionellen, ethnisch gemischten Gesellschaft bis zum heutigen Status quo nachvollzogen. Noch gegen Ende der osmanischen Herrschaft (1878) lebten mehr als ein Drittel der Zyprer in ethnisch gemischten Dörfern und Städten, heute ist die Trennung nahezu total. Der Wertewandel wird besonders an der Stellung der Frau und der Bedeutung der Familie deutlich. Von der Gleichheit der Geschlechter kann dabei bis heute nicht die Rede sein: Schließlich wird noch heute häufig erwartet, daß die Frau ein Haus in die Ehe mit einbringen muß. Und die Zahl beschäftigter Frauen hat sich zwar deutlich vergrößert, doch die Durchschnittslöhne zwischen Mann und Frau klaffen weiter gewaltig auseinander.

Ein Zypern-Buch nur für Zypernfans ist das nicht: Vorgestellt wird ein Fallbeispiel für einen ethnischen Konflikt bei Einmischung von außen, für die Desintegration einer Gesellschaft und für den komplizierten Wandel von einer traditionellen Gesellschaft hin zur Moderne.

Allerdings: Die Qualität der Beiträge unterliegt deutlichen Schwankungen. Wenn etwa im Kapitel über die Landwirtschaft fast ausschließlich die Probleme im besetzten Teil der Insel behandelt werden, ist das etwas verwunderlich.

Das eigentliche Problem des kiloschweren Bands liegt freilich in der Aktualität. Natürlich muß ein Handbuch keinen archäologischen Abriß enthalten. Selbstverständlich erwartet niemand eine ausführliche Würdigung der osmanischen Eroberung im Jahre 1571. Doch das Wissen um die Geschichte der Insel ist notwendig, um Politik und Gesellschaft von heute zu verstehen. Und da wird der Leser ziemlich allein gelassen: Es triumphiert das 20. Jahrhundert mit Betonung auf dem letzte Jahrzehnt. Letzteres wiederum läßt befürchten, daß das insgesamt hochinteressante Buch gerade wegen seiner Aktualität relativ schnell wieder veraltet sein könnte.

Zuletzt der Preis: Wer will 967 Seiten über eine kleine Insel im Mittelmeer lesen, mag sich der Verlag gedacht haben. Und dem Wälzer einen Preis verpaßt, der dafür sorgt, daß die Zahl der Interessenten gering bleiben wird. Klaus Hillenbrand

Klaus-Detlev Grothusen, W. Steffani, P. Zervakis (Hg.): „Zypern“. Südosteuropa-Handbuch, Band VIII, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998. 298 DM