Unter die Räder gekommen

Ein Hit, zwei Sensationen, Langeweile: „Hoffmanns Erzählungen“ in der Oper  ■ Von Stefan Siegert

Vor Tisch war alles bestens. Die Macher von Hoffmanns Erzählungen konnten bei der Premiere am Sonntag in der Staatsoper sogar mit einer kleinen Sensation aufwarten: Erstmals werden die knapp hundert Jahre verschollenen letzten fünf Minuten des vierten („Giulietta“-) Aktes aufgeführt. 1984 hatte sie jemand in letzter Minute davor bewahrt, in einem alten Schloß als Kaminanzünder in Flammen aufzugehen. Ergo ist der Jacques Offenbach-Hit endlich in seiner vollständigen Fassung zu erleben.

Auch bei Tisch begann es verheißungsvoll. Denn nach einigen Takten der strahlenden Entrada des Orchesters war die Metrostation „Opera“ auf der Bühne zu sehen. Das versprach frischen Zugriff. Dann rauschte via Soundtrack sogar ein Metrozug vorbei. Alles sah danach aus, als ob die Schwerst-romantik des hier sowohl mit seiner Dichtung als auch als Dichterfigur zur Opernvorlage gewordenen E.T.A. Hoffmann unter die Räder kommen sollte. Das steckt zwar in Offenbachs Musik nicht drin, ist aber ein spannender Ansatz für Leute von heute.

Die studentischen Gäste des deutschen „Luther“ werden also zu Metro-Franzosen, Hoffmans Muse steigt nicht aus dem Weinfaß, sondern aus der Kanalisation, und seine drei Erzählungen über eine dreigeteilte Geliebte finden nicht im intimen Dämmer seiner Phantasie statt, sondern im öffentlichen Nahverkehr. Die Oper aber ist keine halbe Stunde alt, da merkt man, daß der Einfall mit der Metrostation dramaturgisch nicht ausgefüllt wird. Sie dient fürderhin nurmehr als Kulisse.

Zunächst wird man gekonnt darüber hinweggetröstet. Denn im zweiten Akt sieht Hoffmann die „Olympia“-Version seiner Geliebten nicht durch die hergebrachte Zauberbrille, sondern mittels eines virtuellen Kunstkopfes. Cyber-Olympia bewegt computeranimiert Mund und Augen auf einem Großflächenplakat und wird gar von Bildstörungen und PC-Fenstern („Abbrechen“) unterbrochen. Dann aber ist auch dieser Gag um zwei Umdrehungen zu lang, und die Metro-Idee verliert sich zusehends in postmodernem Bühnenkitsch. All die naturalistischen Versatzstücke der Gegenwart (gegen Ende tritt gar die Polizei in grünen Lederanzügen auf) dienen bestenfalls als des Kaisers neue Kleidern im Regie-Schrank.

Soviel nicht zu Ende Gedachtes hatte die Musik nicht verdient. Ingo Metzmacher nahm Offenbachs mozartähnlich zwischen Volksbelustigung und Hochkunst schwebende Partitur von der strukturellen Seite, traf deren flotten wie tiefen Ton ohne Umschweife und mit zurückhaltend druckvoller Präzision. Gesungen wurde – zumal im Vergleich zu der in dieser Hinsicht beschämenden letzten Premiere – durchweg gut. Marcus Haddocks Hoffmann lag mit geschmeidiger, zu beachtlicher Statur ausbaufähiger Stimme und überzeugender darstellerischer Souveränität sogar noch um einiges darüber. Nicht ganz so beeindruckend, stimmlich aber durchaus Baß-Pendant der Titelfigur war Wolfgang Schöne. Helen Kwon mußte die Olympia ob des Cybertricks hinter der Bühne singen und tat das merkwürdig digital. Der Stella widmete sie sich auf gewohnt beeindruckende Weise.

Ein Abend der gemischten Gefühle. Nicht richtig gut. Nicht richtig schlecht. Aber auch nicht aufregend. Und damit eigentlich doch eher schlecht.