Wenn die Schmerzgrenze erreicht ist

Der Widerstand gegen die Ausbaupläne für den Rhein-Main-Flughafen formiert sich. Der Versuch der Landesregierung, Gegner und Befürworter an einen Tisch zu bringen, ist gescheitert  ■ Aus Frankfurt Klaus-Peter Klingelschmitt

„Wenn die Landebahn Nord gebaut wird, ziehe ich weg aus Kelsterbach“, sagt Walter Stoll. Vierzig Jahre lang hat Stoll als Chemiewerker in der Kleinstadt am Main gearbeitet. Eine Idylle ist Kelsterbach mit einer Textilfaserfabrik, den Anlagen der Hoechst AG auf der anderen Mainseite, dem Flughafen in Sichtweite und dem Industriegebiet mit den Luftfrachtspeditionen nie gewesen. Doch „irgendwann ist die Schmerzgrenze erreicht“, sagt Rentner Stoll. Über dem Dach seines Hauses würden die Flugzeuge zur Landung ansetzen, wenn sie nach der Jahrtausendwende tatsächlich gebaut wird: die Landebahn Nord, die für die Frankfurter FlughafenAG (FAG) offenbar die optimale, weil kostengünstigste Ausbauvariante ist. Parallel zur Autobahn A3 und zur neuen ICE-Schnellbahntrasse soll die Piste aus Beton einmal den Schwanheimer Wald teilen. Der ist Trinkwasserschutzgebiet und Bannwald, ein Wasserreservoir für die 700.000 Einwohner von Frankfurt am Main.

Wie in vielen Städten und Gemeinden rund um den Flughafen hat sich auch in Kelsterbach Widerstand gegen die Ausbaupläne der FAG formiert. Neue Bürgerinitiativen sind entstanden. Sie wollen aber nicht nur gegen den Bau der Landebahn Nord kämpfen. Aktuell gehe es auch darum, den Ausbau der noch von der US Army genutzten Airbase Erbenheim bei Wiesbaden zur Dependance von Rhein-Main zu verhindern, sagt Martin Kessel vom Dachverband der Bürgerinitiativen gegen die Flughafenerweiterung. Und den Bau einer neuen Start-und-Lande-Bahn für kleinere Flugzeuge auf dem Privatflughafen Egelsbach bei Langen im Landkreis Offenbach.

„Platz schaffen für mehr Großraumflugzeuge auf Rhein-Main“ wolle die FAG durch den Ausbau von Egelsbach, so ein Sprecher der Bürgerinitiative von Erzhausen. Deshalb würden heute alle Bürgerinitiativen in der Region an einem Strang ziehen. Und so präsentierten sie sich auf einer ersten Großveranstaltung gegen den Flughafenausbau am 15. Januar 1999 in Mörfelden, der ehemaligen Frontstadt im langen vergeblichen Kampf gegen die Startbahn18 West.

Noch müssen die Bürgerinitiativen zur Kenntnis nehmen, daß sich in der Region eine Mehrheit in der Bevölkerung für den Flughafenausbau ausgesprochen hat – aus Sorge um die Arbeitsplätze. Die FlughafenAG, die Luftverkehrsgesellschaften und die Ladengeschäfte im Flughafen beschäftigen heute direkt 25.000 Menschen. Der Rhein-Main-Flughafen ist der größte standortgebundene Arbeitgeber in Europa. Mit dem Ausbau, so versprechen die Betreiber, würden nach dem Jahr 2000 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Ohne die Erweiterung aber werde der Flughafen seine Spitzenstellung auf dem Kontinent verlieren und damit auch viele Arbeitsplätze. Eine Horrorvision für die dort Beschäftigten. Deshalb ziehen auch Arbeitgeber, Gewerkschaften und Betriebsräte an einem Strang: pro Ausbau.

Eine Horrorvision auch für die Landesregierung. Die „Jobmaschine“ (SPD) der Region, plötzlich ein Sorgenkind?

Es ist Wahlkampfzeit in Hessen. FDP und Union sind für den Ausbau. Rhein-Main sei schließlich der Flughafen der Kapitale des Euro. 415.000 Flugbewegungen wurden 1998 auf Rhein-Main registriert; nach FAG-Prognose müßten im Jahre 2001 rund 500.000 Flugbewegungen bewältigt werden. Mit dem bestehenden Start- und-Lande-Bahn-System sei das nicht zu schaffen. Große Probleme mit den Ausbauwünschen der FAG haben vor allem die Sozialdemokraten. Wirtschafts- und Verkehrsminister Lothar Klemm und der Fraktionsvorsitzende der SPD im Landtag, Armin Clauss, haben sich klar für den Ausbau ausgesprochen; die Landtagsabgeordneten der Partei aus der Region ebenso klar dagegen. Nicht noch einmal dürften vom hessischen Forst aus Bilder wie 1981 um die Welt gehen, sagen sie: Bilder von prügelnden Polizisten und blutenden Demonstranten, von Kettensägenmassakern an uralten Bäumen. Die SPD steht (wieder) vor einer Zerreißprobe.

Nur die Grünen haben sich bislang klar gegen einen Flughafenausbau ausgesprochen. Doch daß die Partei nach den Landtagswahlen am 7. Februar auf eine mögliche Neuauflage der Koalition mit der SPD verzichtet, um im Landtag nicht die Hand für den Flughafenausbau heben zu müssen, glaubt von den Ausbaugegnern heute kein Mensch: „Mißtraut den Parteien, auch den Grünen“ lautete die von Michael Wilk vom Aktionskreis Umweltschutz in Mörfelden ausgegebene Losung im Vorfeld der Landtagswahlen. Dort ging das Gerücht um, daß der Landesregierung bereits 1992 eine Konzeptstudie des TÜV Rheinland zur Umweltsituation am Flughafen vorgelegen habe. Auf Druck der SPD sei diese Studie, in der auf die bereits erreichten Grenzen der Belastbarkeit von Menschen, Tieren und Pflanzen in der Region hingewiesen worden sein soll, nicht veröffentlicht worden. Der damalige Umweltminister Joschka Fischer habe das klaglos hingenommen, um den Koalitionsfrieden zu wahren.

Rettung vor einer Entscheidung noch vor den Landtagswahlen sollte auch das von Ministerpräsident Hans Eichel (SPD) initiierte Mediationsverfahren bringen. Doch der Versuch, Gegner und Befürworter der Ausbaupläne der FAG an einen Tisch zu setzen, um Zeit zu gewinnen, scheiterte. Die eingeladenen Vertreter der Natur- und Umweltschutzverbände und der Bürgerinitiativen hatten schnell den Eindruck, daß sie über diesen Tisch gezogen werden sollten. Die Position der Ausbaugegner stand nie zur Diskussion. „Im Mediationsverfahren soll über die Ausbauvarianten gesprochen werden und über sonst nichts“, echauffierte sich Martin Kessel. Die Bürgerinitiativen verweigerten sich deshalb gleich dem Verfahren; danach verließen die Verbände die Mediation, zuletzt die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald (SDW).

Das Mediationsverfahren: nur noch eine Farce. Und nur als Farce soll sich Geschichte angeblich wiederholen. „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ sprühten Startbahngegner 1984 zur Eröffnung des Runaway 18 West auf die „Schandmauer“ um die Piste.

Daß auch diese „letzte Schlacht“ nicht im Wald gewonnen werden kann, wissen die Bürgerinitiativen von heute; höchstens an der Medienfront.