Ausstieg mit Verspätung

■ Atommüll wird auch nach dem 1. Januar 2000 von Deutschland nach Frankreich und England und zurück rollen. Ohne Zwischenlager direkt an den Standorten der Atomkraftwerke sei der Industrie kein Stopp der Wiederaufbereitung zuzumuten. Das ist das Ergebnis der ersten Energiekonsensrunde zwischen Atomindustrie und Bundesregierung in Bonn. Wann der Mülltourismus ein Ende haben wird, soll nun für jedes Atomkraftwerk einzeln entschieden werden

Sage noch einer, Konsens sei Nonsens. Kaum hatten sich gestern Bundesregierung und Atomvorstände zum ersten Mal offiziell zu den Konsensgesprächen im Kanzleramt getroffen (diesmal mit Umweltminister Trittin), war schon alles anders als am Tag vorher: Die Novelle des Atomgesetzes wird in wesentlichen Punkten anders aussehen als bisher geplant. Die vier Chefs der großen Stromkonzerne konnten durchsetzen, daß die Laufzeit ihrer Atomkraftwerke auf keinen Fall von einem Verbot der Wiederaufarbeitung betroffen ist.

Konkret heißt das, der Stopp der Wiederaufarbeitung zum 1. Januar 2000 ist vom Tisch. Dies gaben nach dem Treffen Bundeskanzler Gerhard Schröder und Manfred Timm, Vorstandsvorsitzender der Hamburger HEW und Sprecher der AKW-Betreiber, bekannt. Das Ende der Wiederaufarbeitung solle jetzt in einer Arbeitsgruppe für jede einzelne Anlage separat gefunden werden. Auf eine mögliche Frist wollten sich weder Schröder noch Timm festlegen. Schröder sagte, der Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung solle „so schnell als möglich“ und „anlagenbezogen“ erfolgen.

Das bedeutet: Jeder Reaktorbetreiber kann so lange weiterhin Brennstäbe nach Frankreich oder England schicken, bis das Zwischenlager auf seinem AKW-Gelände genehmigt und gebaut ist. Damit wird der unter Umweltgesichtspunkten wünschenswerte schnelle Ausstieg aus der Plutoniumwirtschaft von der Schnelligkeit der Genehmigungsbehörden und der Baufirmen abhängig.

Über den eigentlichen Ausstieg aus der Atomenergie, die Restlaufzeiten der 19 deutschen Atomkraftwerke, wurde gestern noch nicht gesprochen. Dazu soll es nach den Worten Timms beim nächsten Treffen Anfang März kommen. Der Sprecher der Energieunternehmen betonte, seine Branche halte es unverändert für einen Fehler, aus der Kernenergie auszusteigen. Hier seien Industrie und Regierung „sachlich weit auseinander“. Dies werde sich auch bis zum Ende der Konsensgespräche im Grundsatz nicht ändern. Die Unternehmen akzeptierten aber das Primat der Politik.

Timms Firma, die HEW AG, gehört übrigens mehrheitlich der Hansestadt Hamburg. In der Satzung der HEW steht, daß sie aus der Atomenergie aussteigen will. Und die Hansestadt Hamburg wird von einem rot-grünen Senat regiert, der ebenfalls einen Ausstiegsbeschluß gefaßt hat.

Manfred Timm zeigte sich gestern trotzdem zufrieden darüber, daß Trittin gleich zu Beginn der Unterredung klargestellt habe, daß es auch von den Grünen „keine Verstopfungsstrategie“ geben werde, die den weiteren Betrieb der Atomanlagen bereits kurzfristig unmöglich machen würde. Die Atomwirtschaft sehe das aber erst als „Garantie“, wenn ein Gesetz verabschiedet sei und dieses auch vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand gehabt habe. Schadenersatzklagen mit hohen Streitwerten stehen also nach wie vor als Drohung im Raum.

Zur Überraschung seines grünen Umweltministers über die Rücknahme des Atomgesetzentwurfs meinte Gerhard Schröder, Trittin sei „zureichend früh“ von ihm informiert worden. Den endgültigen Entwurf der Novelle habe das Umweltministerium erst Sonntag abend vorgelegt. Von Trittins Ministerium selbst seien dabei acht Punkte aufgeführt gewesen, die noch der rechtlichen Klärung bedürften.

Daß der verbleibende Rest des Atomgesetzes nun keineswegs aus der Schußlinie ist, wurde ebenfalls deutlich: Mit Blick auf seinen Nebenmann Timm meinte der Kanzler gestern, „die Beteiligten im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens werden ihre Möglichkeiten sicher nutzen, die Fraktionen des Bundestages anzusprechen“. Der Neuentwurf des Atomgesetzes sieht bisher vor, die Förderung der Atomenergie als Staatszweck zu streichen. Außerdem sind zusätzliche Sicherheitsüberprüfungen und eine Verzehnfachung der Versicherungssumme auf fünf Milliarden Mark für den Fall einer Verstrahlung der Umwelt der Atomzentralen vorgesehen.

Unabhängig von solchen für Rechtsanwälte und Konzernbilanzen wichtigen Details stellt sich für die Anti-AKW-Bewegung nun die Frage, wann und wie viele Castoren nun durch Deutschland rollen werden. Die Energieversorger erwarten eine baldige Wiederaufnahme der Atomtransporte zu den WAA in Frankreich und Großbritannien. Die Wiederaufnahme dieser Transporte sei die Grundvoraussetzung für alle weiteren Gespräche, sagte Koordinator Timm gestern. Deutschland sei das einzige Land, in dem Atomtransporte nach dem „angeblichen Skandal“ noch immer nicht genehmigt würden.

Die Atomtransporte waren noch von Trittins Vorgängerin Angela Merkel (CDU) verboten worden, weil die Strahlung an der Oberfläche der Stahlbehälter und der Eisenbahnwaggons teilweise ein Vielfaches der erlaubten Grenzwertes betrug.

Aufatmen können nach derzeitigem Kenntnisstand allein die Bürger von Morsleben in Sachsen- Anhalt: Das einzige deutsche Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle soll endgültig geschlossen werden. Dies ist nach Angaben von Sachsen-Anhalts Umweltministerin Ingrid Häußler (SPD) im Entwurf von Bundesumweltminister Jürgen Trittin für die geplante Atomrechtsnovelle festgehalten. Dieser Passus scheint auch nicht umstritten zu sein. Seit Herbst 1998 wird nach einem vorläufigen Einlagerungsstopp kein Atommüll mehr nach Morsleben gebracht.

In der derzeitigen, noch von der alten Bundesregierung beschlossenen Fassung des Atomgesetzes war die aus DDR-Zeiten stammende Betriebsgenehmigung um fünf Jahre bis zum 30. Juni 2005 verlängert worden. Das Land hatte stets gefordert, Morsleben dürfe nicht über den 30. Juni 2000 hinaus betrieben werden, und mit diesem Ziel gegen die Novelle geklagt. Nach Angaben eines Ministeriumssprechers in Magdeburg wird die Klage jedoch vorläufig nicht formell zurückgezogen.

Das Oberverwaltungsgericht Magdeburg (OVG) hatte im Herbst die weitere Einlagerung von Atommüll im Ostfeld des unterirdischen Salzstocks verboten. Für die Erweiterung des Endlagers um diesen Bereich gebe es keine rechtliche Grundlage. Daraufhin hatte das Bundesamt für Strahlenschutz als Betreiber einen vorläufigen generellen Stopp der Einlagerungen in Morsleben verfügt, weil es in anderen Bereichen des Lagers kaum noch Platz gebe.

Wo in Deutschland nach einem Endlager gesucht werden soll, muß noch verhandelt werden. Es gibt also einige Gelegenheit für Streitigkeiten zwischen den Koalitionspartnern, der Bevölkerung und den beteiligten Landesregierungen und Stromkonzernen. Reiner Metzger