Mißverständnis verstehen

Yoshi Oida erfüllt sich einen Jugendtraum und inszeniert Existentialismus auf japanisch: Camus' Das Mißverständnis im Thalia Theater  ■ Von Christiane Kühl

Vielleicht gibt es im Leben eines jeden Menschen nur einen Satz, der wahr ist. Geschrien in dem Moment, in dem wir das Licht der Welt erblicken. Danach, so Yoshi Oida, kommen die Kostüme, die Erziehung, die Ausbildung, die Gesellschaft, der Beruf. „Ich bin Regisseur. Ich bin Japaner. Ich bin ein Mann. Aber ich muß herausfinden, wer ich bin. Das ist Leben: die Kostüme ablegen.“

Ein Interview mit dem studierten Philosophen, grandiosen Schauspieler und Regisseur Yoshi Oida könnte leicht zu einer Zen-Session werden, wäre da nicht das Verständigungsproblem. Seine Heimat Japan verließ er, als Nô- und Kabuki-Darsteller ausgebildet, mit 35 Jahren in Richtung Paris, wo er seitdem lebt und mit Peter Brook arbeitet. Ein Gespräch auf englisch mit einer Deutschen ist geprägt von Akzent, vielen Nachfragen und noch mehr erläuternden Gesten. Daß er nun am Thalia Theater Albert Camus' Das Mißverständnis inszeniert, möchte man als feine Ironie verbuchen, doch selbstverständlich ist ein Mißverständnis für Oida weit über das Sprachproblem hinaus definiert. „Wir wissen nicht, warum Kommunikation so schwierig ist. Aber das Selbst, die anderen, die internationalen Beziehungen – alles ist Mißverständnis.“ Es zu ergründen, sei eine Lebensaufgabe: „Du mußt dein Mißverständnis verstehen.“

Camus' 1944 uraufgeführter Dreiakter, dessen Parabel bereits in Der Fremde erscheint, erzählt von der mißlungenen Heimkehr des verlorenen Sohnes. Reich und glücklich geht Jan aus dem Sonnenreich zu Mutter und Schwester zurück, ohne sich zu erkennen zu geben. Das ist sein Verderben, denn die beiden, arm und unglücklich im Schattenreich, töten ihn, um an sein Geld zu kommen. Erst nach dem Mord erkennen sie den Sohn und Bruder; vor Schmerz und Scham begehen beide Selbstmord.

Daß er heute Camus inszenieren dürfe, sei wie eine Jugendtraumerfüllung, sagt der agile Mann mit den eichhörnchenschnellen Augen. Als er jung war, sei der Existentialismus in Japan genauso en vogue gewesen wie der Kommunismus. Natürlich fiel er da auf anderen Boden: „Bei euch Europäern, besonders den Deutschen mit Jaspers und Heidegger, kommt die Metaphysik immer a priori. Im Buddhismus ist es o.k., zu sagen, daß das Leben keine Bedeutung hat.“ In der westlichen Religion, wo Gott jemand da oben sei, nach dem man die Hände ausstreckt, könne man vielleicht Gott töten. „Aber man muß Gott nicht nach außen tun. Es ist in dir. Wenn du Gott umbringen willst, kannst du Selbstmord begehen.“ Das Mißverständnis ist dementsprechend kein pessimistisches Stück für ihn, sondern ein eindeutiges: Gott hilft dir nicht.

Kostüme ablegen, dein Mißverständnis ergründen, Gott in dir tragen. Ob denn wirklich alles, will die Journalistin wissen, was wichtig ist, in dir sei oder ob es auch irgendetwas Bedeutendes außerhalb des Selbst gebe. Da hebt Yoshi Oida etwas erstaunt und milde lächelnd die Augenbrauen. „Diese Frage haben Sie, wenn Sie das Innen vom Außen abteilen. Es ist gefährlich, Dinge aufzuteilen. Daher rühren viele Mißverständnisse.“

Premiere: Samstag, 30. Januar, 20 Uhr, Thalia Theater