Erinnern, vereinfachen etc.
: Begriffskeulen

■ Der Nazi und das Kind: Martin Walser und der öffentliche Diskurs

Am Anfang war eine Rede. Es folgte eine monatelange, hitzige Debatte. Was davon übrigbleibt, scheint nicht viel mehr zu sein als ein Unwort des Jahres. Martin Walsers polemische Wortprägung „Moralkeule“ wird in der jetzt veröffentlichten Unwortwahl an Verabscheuungswürdigkeit nur noch vom „sozialverträglichen Frühableben“ übertroffen, einem Begriff des Ärztekammerpräsidenten Karsten Vilmar. Eine komplexe und notwendige Debatte um die Formen der Erinnerung an den Holocaust und die Schwierigkeit öffentlichen Gedenkens ist mit dieser listenmäßigen Inkriminierung endgültig am Tiefpunkt angelangt: Aus einer Rede wurde eine handliche Begriffskeule herausgeschnitzt, die sich leichter Hand gegen ihren Urheber wenden läßt.

Längst ist es wohlfeil und zum allgemeinen Sprachgebrauch geworden, eine wo auch immer entdeckte Wegschaulust mit dem Attribut „walsersch“ zu versehen – ganz so, als könne sich niemand mehr erinnern, daß Walser nur den medialen Verschleiß des Gedenkens anprangerte. Der Schriftsteller Stefan Heym polemisierte nun gegen seinen „prominenten Kollegen“, der „es satt habe, dauernd von den Juden zu hören“, und der der Meinung sei, „ein Schlußstrich sei nötig“. Als hätte Walser irgend etwas davon gesagt, als er die „Instrumentalisierung“ von Auschwitz kritisierte.

In Frankfurt trommelte die GEW zu einer Veranstaltung, die den Gedenktag 27. Januar zur großen Walserentlarvung nutzen wollte. Horst-Eberhard Richter war da geladen, um dem Schriftsteller „aus psychologischer Sicht“ die Maske von Gesicht zu reißen und sich mit den „deutschnationalen Mechanismen“ auseinanderzusetzen, die Walser nutze, um „negative Stimmungen gegen die Überlebenden des Holocaust zu schüren“. Ein GEW-Mitglied wollte aus Walsers jüngstem Roman gar das „Grundmuster eines Antisemitismus nach Auschwitz wegen Auschwitz“ herauslesen. Das ging selbst dem IG-Medien- Vorstand zu weit: Der Vorsitzende Detlef Hensche distanzierte sich öffentlich von der Veranstaltung und dem „absurden Vorwurf“ des Antisemitismus.

Mit Walsers Rede und dem Anliegen seines Romans hat diese Schwundstufe öffentlicher Erregung in der Tat nichts mehr zu tun. Walser versucht in „Ein springender Brunnen“, seine Kindheit im Nationalsozialismus so unmittelbar zu rekonstruieren, wie er sie damals durchlebt und empfunden hat. Das ist riskant, denn das heißt eben auch: ohne alles postume Besserwissen. Gerade das scheint aber für manche schwer erträglich, die die Schilderung der deutschen Vergangenheit nur dulden können, wenn das Gute immer schon als gut und das Böse als böse erkannt und benannt und damit gebannt wird.

Solche eher kindlichen Übersichtlichkeitsbedürfnisse sind ja noch zu verstehen. Muß man Walser aber deshalb gleich zum Rechten und zum Antisemiten erklären? Es ist schon seltsam, wie eine lange Zeit offene Debatte sich nun auf wenige Schlagworte mit Schlagseite reduziert. Doch so funktioniert das: Argumente sedimentieren im öffentlichen Bewußtsein zwangsläufig zu plakativen Emotionen. Am Ende ist Walser der alte Nazi und war doch nur ein naives Kind. Jörg Magenau