■ Vorlesungskritik
: Schlechtes Gewissen

Am Ende wirkte Norbert Bolz ein wenig enttäuscht. Da hatte der Philosoph und Kommunikationstheoretiker aus Essen in der Berliner Humboldt- Universität eine Stunde lang die „Konformisten des Andersseins“ gegeißelt und die „Emanzipation vom Emanzipationszwang“ gepredigt. Da hatte er sich unentwegt auf Kronzeugen wie die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann oder den Philosophen Hermann Lübbe berufen, die linksliberalen Sozialwissenschaftlern ein rotes Tuch sind. Da war schließlich auch in der Ankündigung nicht unerwähnt geblieben, daß ihn manche für einen „Herold einer neuen Barbarei“ oder für einen „hemmungslosen Machtphilosophen“ halten. Und doch – alles umsonst.

Nach dem Vortrag blieb der große Aufschrei aus. Nur ganz kurz durfte Bolz hoffen, sich als unterdrückter Außenseiter gerieren zu können: Ein empörter Zuhörer warf ein, Bolz' Thesen würden schon durch die „schlichte Tatsache“ widerlegt, daß ihm keiner „auf's Maul“ haue. Die übrigen Diskutanten hielten sich an die präventiv ausgegebene Mahnung, man solle Bolz nicht den Gefallen tun, ihn durch unnötige „Aufgeregtheit“ zu bestätigen. Der Rest war dann akademische Routine.

Nähme er sich selbst ernst, hätte Bolz freilich nichts anderes erwarten können. Schließlich hatte er schon in seinem Vortrag den 68ern angekreidet, sie hätten durch ihre Gesellschaftskritik „die Gesellschaft immun gegen Kritik gemacht“. Folglich könne man heute mit Provokationen nicht mehr provozieren. Statt dessen sei das kritische Bewußtsein zu einem „Modeartikel“ geworden, den man „auf dem Markt der Meinungen kaufen kann“. Das alles ist nach Bolz die Schuld von Leuten, „die mit den Anforderungen der modernen differenzierten Gesellschaft nicht mehr zurechtkommen“. Sie könnten sich nicht damit abfinden, daß der Mensch als Ganzes in der Gesellschaft nicht mehr vorkomme, ersetzbar geworden sei. Mit einem „Kult der Abweichung“ versuche das Individuum nun, sich seiner selbst wieder zu versichern. „Netzwerke artikulationsstarker Minderheiten“ beherrschten die „veröffentlichte Meinung“ und drangsalierten die schweigende Mehrheit mit einer „Psychotechnik des schlechten Gewissens“.

Beachtlicher als dieser simple Aufguß von Noelle-Neumanns schon fast vergessener „Schweigespirale“ erscheint der theoretische Aufwand, den Bolz auf dem Weg zu ihr betrieb. Von Gehlen bis Luhmann, von Adorno bis Lübbe zitierte er sich kreuz und quer durch die Geschichte der modernen Sozialphilosophie. Einen Zugang zu einer nicht hinterfragten „Normalität“ hat jedoch auch Bolz nicht mehr, bei soviel theoretischem Ballast ohnehin nicht. Wenn er sich in der Rolle des Normalos gefällt, dann treibt er seinerseits nur moderne Selbststilisierung. Und versucht, den von ihm beschriebenen Mechanismus zu seinen eigenen Gunsten auszunutzen: sich als unterdrückten Außenseiter in den Sozialwissenschaften zu profilieren. Ralph Bollmann