Das deutsche Wort für Wurst?

Der Unterricht wird zum Ratespiel, im Stadtteil stimmt die Mischung nicht mehr: Die Lehrer an einer Kreuzberger Schule haben mit ihren Schülern keine gemeinsame Sprache mehr  ■ Von Vera Gaserow

Wenn gar kein Durchdringen mehr ist, schwingt Heinke Lickfett das silberne Glöckchen, das neben ihr auf dem Lehrerpult steht. Die Sprache des Glöckchens verstehen hier alle, die der Lehrerin nicht immer. Heinke Lickfett ist eine Frau mit ruhig-artikulierender Stimme. Langer Rock, gestärkte Bluse, grauer Haarknoten – so hat man sich immer die Lehrerin einer Dorfschule vorgestellt, und etwas Ähnliches wie eine Dorfschule ist die 7. Oberschule vielleicht auch. Das dazugehörige Dorf liegt mitten im tiefsten Kreuzberg, aber eigentlich weiß niemand mehr genau, es zu verorten.

Vor gut sechs Wochen hat Heinke Lickfett mit ihrer 7. Klasse Weihnachten gefeiert. Die Tische standen voll mit selbstgebackenen Leckereien. Von 18 Schülern haben drei davon gegessen. Die anderen hielten sich an die Fastenregel des Ramadan. Das vor einigen Jahren noch anders. Einen Monat später: Die Klasse feiert Bayram, das Zuckerfest zum Ende der Fastenzeit. Von den vier deutschen Schülern sind an diesem Vormittag zwei gleich weggeblieben, und Attila kämpft gegen die „Beleidigung“, nur „Halbtürke“ zu sein: „Eh Mann, isch bin Türke.“ In der Nachbarklasse hat es gerade Tränen gegeben. Tülay sollte beim Experimentieren im Chemieunterricht ihr Kopftuch ablegen. Unter dem Vorwand „Kopfschmerzen“ ist sie nach Hause gegangen.

Gut dreißig Berufsjahre hat Lehrerin Lickfett auf dem Buckel, mehr als zwanzig davon in ihrem Wohnbezirk Kreuzberg, und noch nie war die Zusammensetzung ihrer Schülern so eindeutig. In den vier siebten Klassen, die im letzten Herbst an der Schule starteten, sitzen exakt acht „originär Deutsche“. Mit Mühe hat man die beiden deutschen Mädchen des ganzen Jahrgangs in einer Klasse untergebracht.

Deutsche – Ausländer, alle wissen, daß die Einstufung nicht korrekt ist. Die meisten „ausländischen“ Schüler der 7. Kreuzberger Oberschule sind hier geboren und haben einen deutschen Paß. „Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache“ heißt die korrekte Bezeichnung, so bemüht neutral, daß es schon ironisch klingt.

Deutschunterricht in der 7/3. Auf dem Stundenplan steht eine Bildergeschichte, in der ein Hund fälschlich beschuldigt wird, die Tulpen seines Herrn geköpft zu haben – viel zu kindlich für pubertierende vierzehnjährige Schüler. In der vorigen Stunde haben sie die wichtigsten Worte durchgenommen, jetzt sollen sie jeweils zu zweit die Geschichte nacherzählen. „Herr Hans ist geschrockt“ schreibt Mesut, „sein Frau hat den Tulpen abgeschnieten“ steht bei Hashem, „er will bei Hund entschuldigen“ ergänzt Sevge „und bringt ihn ein...?“ Wie heißt nur das deutsche Wort für Wurst?

Eine Doppelstunde Deutsch, jeweils zwei Lehrer in einer Klasse, was ist der Lerneffekt von solchen 90 Minuten? „Wir wissen oft wirklich nicht, was bei den Schülern überhaupt ankommt“, klagt eine Lehrerin. Heinke Lickfett bilanziert für ihre Siebtkläßler: „Fast regelmäßig sind die Artikel falsch, die Zeiten sitzen nicht, und die Fälle kriegen Sie einfach nicht in die Köpfe hinein.“ Immerhin bilden ihre Siebtkläßler „schon“ deutsche Sätze.

Schon. Wer an die 7. Oberschule kommt, die in Kreuzberg nostalgisch „Kiezschule“ heißt, hat in der Regel sechs Jahre Berliner Grundschule durchlaufen. Die allermeisten waren zuvor auch in einem staatlichen Kindergarten. Nur haben all diese Einrichtungen vor einer Übermacht kapituliert – vor der Realität eines Berliner Innenstadtbezirks. Die Kiezschule liegt mitten im Kreuzberger „Wrangelkiez“, dem Berliner Spitzenreiter in Sachen Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug und Ausländeranteil. Spätestens seit der Maueröffnung ist die soziale Mischung in den Straßenzügen aus den Fugen geraten. Wann immer in Berlin das Wort „Ausländerghetto“ fällt, muß der Wrangelkiez herhalten. Die dominierende türkische Community hat sich hier ihre eigene Infrastruktur geschaffen. Reisebüros, Banken, Bäcker, Rechtsanwalt, Steuerberater, Gynäkologe – für jede Notwendigkeit gibt es Institutionen mit türkischen Namen. Das Leben hier braucht keine deutsche Sprache.

In der „Kiezschule“ gehören fast 75 Prozent der SchülerInnen in die Kategorie „Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache“. „Mit 60 Prozent könnten wir ja leben“, sagt Schulleiter Bernd Böttig, und denkt den Umkehrschluß nur halblaut laut zum Endeä: „Wen sollen wir denn wo integrieren?“ Auch bildungsbewußte türkische Eltern „drehen um, sobald sie von unserem Ausländeranteil hören“. Böttig kann das verstehen. „Wenn die Schüler irgendwann ihren Lebensunterhalt verdienen sollen, müssen sie einfach Deutsch können. Und das können wir nicht mehr gewährleisten.“

Die Berliner Politik hätte kürzlich die Chance gehabt, daran etwas zu ändern und hat sie vertan: Die geplante Zusammenlegung der Stadtbezirke ließ die Kiezschule auf eine bessere soziale Mischung hoffen. Doch die Politiker entschieden, Kreuzberg muß ausgerechnet mit dem Ostbezirk Friedrichshain fusionieren. Beide Stadtteile verbindet nichts außer einer vielbefahrenen Spreebrücke und beidseitige Vorurteile: „Aus Friedrichshain wird kein einziger deutscher Schüler zu uns kommen, und kein türksicher Schüler wird rüber in den Osten gehen“, prognostiziert Schulleiter Böttig, „zu uns kommen weiter die, die niemand haben will.“

Eine Schule irgendwo zwischen Aufbäumen, Fatalismus und Resignation. Kein Einzelfall in den Ballungszentren deutscher Großstädte. Dabei sind die Bedingungen in der Kiezschule denkbar günstig. Nur 350 Schüler, eine fast familiäre Atmosphäre, der Stellenplan günstig, das Lehrerkollegium engagiert, vom abgewetzten linken Anspruch zeugt die Patina auf zahllosen GEW-Kaffetassen. Wer hier als Pädagoge herkam, tat es bewußt. Ein stadtteilorientiertes Konzept, eine Modellschule mit fließendem Übergang vom Haupt- zum Realschulabschluß und mit allem ausgestattet, was eine Schule „besonderer pädgogischer Prägung“ braucht: kleine Klassen, Gruppenräume, Sprachförderung, Sozialpädagogen, Mensa, Ganztagsbetrieb als Freiraum für die türkischen Mädchen, liebevoll gestaltete Klassenräume, Flure ohne Vandalismusmarkierungen, erstaunliche Ruhe im Unterricht — und im Lehrerzimmer hört man das bittere Eingeständnis: „Eigentlich wir sind mit unserem Latein am Ende.“

„Wären wir wirklich multi- kulti“, sagt Schulleiter Böttig, „dann hätten wir weniger Probleme.“ Wo verschiedene Nationalitäten zusammenkommen, einigen sich die Schüler auf Deutsch als gemeinsame Sprache. Da aber die Straßenzüge rund um die Schule immer monokultureller werden, ist Türkisch die selbstgewählte „Amtssprache“ auf den Schulfluren und zu Hause. Auch arabische Jungen lernen türkische Brocken, um beim Fluchen und Kicken mithalten zu können.

Fast ein Drittel der Bewohner des Wrangelkiezes ist in den letzten Jahren weggezogen, und es waren die Besserverdienenden und Gebildeten. Die geblieben sind, haben oft mehr mit sich selbst zu tun, als für ihre Kinder zu sorgen. Wo den Eltern der strukturierte Arbeitsalltag verlorengegangen ist, schaffen auch die Kinder nur mit Mühe den morgendlichen Schulweg. „Mein Sohn konnte nicht kommen, weil er verschlafen hat“ steht neuerdings auf Entschuldigungen.

Donnerstag früh, Schulbeginn in der 7/3. Von 18 SchülerInnen sitzen 12 auf ihren Plätzen. Eine Viertelstunde brauchen die Dreizehnjährigen jeden Morgen, um zur Ruhe zu kommen. Um Viertel nach acht kommt Yussuf mit wortlosem Türknallen. Zehn Minuten später stolziert Ugur herein. Bei Bruno, der sich später geduckt auf seinen Stuhl schleicht, guckt Heinke Lickfett schon gar nicht mehr zur Uhr. Der kommt immer zu spät. Der zweite unter ihren vier deutschen Schülern ist notorischer Schwänzer, der dritte muß regelmäßig ein Beruhigungsmittel nehmen. Klassenlehrerin Lickfett weiß nicht mehr, wer ihre Hauptsorgenkinder sind. Die Rechtschreibung der deutschen Kinder ist oft noch katastrophaler als die ihrer türkischen Schulkameraden. Sie hätten sprachlichen Förderunterricht mindestens genauso nötig wie die „Ausländerkinder“.

Heinke Lickfett ist eine Klassenlehrerin, für die es pädagogische Selbstverständlichkeit ist, Hausbesuche zu machen. In den Wohnzimmern läuft dabei das türkische Fernsehprogramm, etliche ihrer Schüler haben den eigenen Fernseher gleich im Kinderzimmer. Daß ihre Kinder die Sprache beherrschen müssen, wenn sie eine berufliche Zukunft haben wollen, ist für die meisten Eltern eine eher abstrakte Erkenntnis. „Ich verliere mein Gesicht, wenn mein Sohn besser deutsch als türkisch spricht“,hat ein Vater erklärt. Im Sekretariat der Kiezschule stehen Eltern, die ganz selbstverständlich nach einem Dolmetscher verlangen. Elternarbeit läuft nur noch auf Sparflamme. Vor allem mit den Müttern ist kaum eine sprachliche Verständigung möglich, und daran wird sich auch in Zukunft wenig ändern. Wenn sie mit ehemaligen Schülern spricht, fällt Heinke Lickfett neuerdings „schier vom Hocker“: Fast alle suchen sich ihre Ehepartner in der Türkei.

Um die Sprachprobleme der Kinder schon im Elternhaus anzupacken, hat der Berliner Senat jetzt ein einmaliges Programm aufgelegt. Parallel zum Unterricht ihrer Kinder sollen Mütter vormittags Deutsch lernen können. Ein maßgeschneidertes Angebot an über 50 Schulen. Mit 200 Rundbriefen hat auch die Kiezschule dafür geworben. Fünf Mütter haben sich angemeldet.

Zehnte Klasse, Abgangsklasse. Wie sie ihre SchülerInnen ins Leben entlassen wird? „Mit einem schlechten Gefühl“, da ist sich Jutta Spychalski, die Klassenlehrerin der 10/1, sicher. Von den Schulabgängern, die 1990 die Kiezschule verließen, haben damals alle einen Ausbildungsplatz gefunden. Im letzten Jahr waren es nur noch drei. Mit ungeheurem Fleiß werden einige aus der 10/1 einen passablen Realschulabschluß schaffen – und danach ohne Aussicht auf eine Lehrstelle sein: „Wie wollen wir Jugendliche zum Lernen motivieren, wenn immer die Ausrede parat ist: hat ja eh keinen Zweck.“

Mit großem Elan hat die „Kiezschule“ Mitte der siebziger Jahre als Schulversuch angefangen, heute sagt Schulleiter Böttig: „Wir müssen ehrlich eingestehen: Diese Schule wurde für andere Bedingungen konzipiert. Wir müssen das Konzept überdenken.“ Nur, wie kann das aussehen für einen Stadtteil wie diesen? Und wer hat den Elan, es zu erstreiten? Die Lehrerschaft der Kiezschule marschiert stramm auf den Vorruhestand zu. Wer Mitte vierzig ist, gehört hier zu den jüngsten. Die Neueinstellung von uneingeschliffenen Junglehrern verhindern Beamtenrecht und Haushaltslage. Neulich immerhin, konnte man hier ein Datum rot im Kalender anstreichen. Da wurde ein Kollege aus dem Osten, „ein ganz junger“, dreißig.