Unser buntes Fenster zur Welt

Er steht im abgedunkelten Wohnzimmer und zeigt zunächst alles nur in schwarzweiß. Trotzdem eröffnet der Fernsehempfänger seinem Betrachter ungeahnte neue Perspektiven. Was plötzlich alles möglich ist! Reisen in ferne Länder, Cha-Cha-Cha auf dem flachen Land. Es wird gerätselt und gewitzelt, belehrt und politisiert. Erst nur ein paar Stunden am Tag, heute rund um die Uhr auf unzähligen Sendern. Fast zeitgleich mit der Gründung der Bundesrepublik nimmt das Fernsehen seinen Sendebetrieb auf. In Teil IIder Serie „50 Jahre neues Deutschland“ werden fünfzig Jahre Sendungsbewußtsein weggeguckt  ■ Von Klaudia Brunst

Der Spirit, mit dem das deutsche Fernsehen nach Kriegsende wieder aufgebaut wird, kommt aus England. Die britischen Besatzer verfassen den deutschen Rundfunk nach dem Vorbild ihrer BBC, also als „vierte Gewalt“. „Unabhängig von Parteien und Staat“ soll er sein und frei von kommerziellen Notwendigkeiten. Die sich in Hamburg versammelnden deutschen Fernsehspezialisten kennen sich freilich zumeist schon aus der Nazizeit. Ihre ersten Versuchsprogramme funken sie aus einem Bunker bei Hamburg. Die Bestimmung des Fernsehens, versichert der erste Fernsehdirektor, Adolf Grimme, liege darin, daß „der Mensch auf dem Umweg über das Sehen der Ferne wieder zu sich selbst kommt“. Zunächst ist von innerer Einkehr wenig zu spüren. Alle starren einfach nur gebannt nach draußen.

Mit Einführung des Fernsehens finden die Ereignisse nun daheim statt. Hatte man bisher das Haus in Richtung Kino verlassen müssen, um in der „Wochenschau“ einen Blick auf die große weite Welt werfen zu können, macht man es sich nun im Wohnzimmer gemütlich (noch aber obsiegt der Respekt vor dem Fremden: Die Füße bleiben am Boden!) und sieht den Reportern zu, wie sie nach Amerika fliegen oder in die Serengeti, begutachtet Pariser Modeschauen oder modernes Theater aus der Neuen Welt. Gelegentlich findet sogar ein internationaler Star nach Hamburg. Dann lädt ihn das Fernsehen zu einem „Prominentengespräch“ ins winzige Studio ein.

Die Faszination des neuen Mediums beruht auf der Spannung zwischen Weitläufigkeit der Programmatik und Innerlichkeit der Rezeption. So viel ist jetzt gefahrlos möglich! Die ersten vorsichtigen Versuche in Sachen Liberalität finden natürlich heimlich statt. Daß jeder nach eigenem Gusto das Ferne, Fremde, Andere risikolos ausprobieren kann, macht die Zuschauer mutig und neugierig auf die Welt: Es werden „Neger“ bestaunt und italienische Nudelrezepte nachgekocht – Nachholbedarf!

Zunächst geraten die europäischen Nachbarn ins Blickfeld. Während die Politiker noch das Für und Wider der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft debattieren, ist Europas Fernsehgemeinschaft bereits initiiert. Man fiebert bei der Fußball-WM in Bern mit und spielt alsbald mit Kuli „EWG“. Am 2. Juni 1953 überträgt das Fernsehen elf Stunden lang die Krönung von Queen Elizabeth II. Halb Deutschland guckt zu. Der europäische Verbund „Eurovision“ ist praktische Westintegration.

Das Fernsehen synchronisiert die Lebenswelten. Anders als Theater oder Kino ist das Fernsehen standortunabhängig: Wo immer man es aufstellt, erteilt es in allerhand Ratgebersendungen praktische Lebenshilfe, sogar tanzen kann man lernen, und sonntags tischt Werner Höfers „Frühschoppen“ Weltpolitik auf. Das traditionelle Bildungshandicap der Landbevölkerung läßt sich durch einen Fernsehempfänger wunderbar ausgleichen. Und wenn die neue Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands ARD auch föderal aufgebaut ist, hält sie doch nicht viel von regionalen Besonderheiten. Selbst beim Volkstheater legt man Wert auf Verständlichkeit: Mundarten werden eigens für die Fernsehaufzeichnungen abgemildert, und durch die konsequente Verwendung der Hochsprache im Fernsehen bekommt der Dialekt den Makel des Unzeitgemäßen.

Auch „drüben“ wird daran gearbeitet, die Wirkung des Fernsehens gesellschaftlich nutzbar zu machen. Allerdings sind der Faszination des „Zauberspiegels“ hier von Anfang an Grenzen gesetzt: Anders als in den Westsektoren wird das DDR- Fernsehen nach sowjetischem Vorbild als Staatsfernsehen etabliert. Es soll als „kollektiver Organisator“ dem Aufbau des Sozialismus und der Erziehung des sozialistischen Menschen dienen. Allein, aufgrund des Kalten Krieges endet die Welt in Kuba, und die vom Nordwestdeutschen Rundfunk NWDR eifrig mittels „Umsetzer“ gen Osten erweiterte Sendereichweite spiegelt zum Ärgernis des Politbüros eine prosperierende, freie Gesellschaft in die eigene Zone. Während Modernität im DDR-Fernsehen aufgrund des großen Mangels eine abstrakte Idee bleibt, ist sie im Westfernsehen zu sehen.

Als am 17. Juni 1953 in Ostberlin der Aufstand geprobt wird, ist nicht das DDR- Fernsehen, sondern der NWDR mit seinen Kameras live dabei. Das DDR-Fernsehen kann gegen die Bilderflut aus dem Westen nicht ansenden und verliert angesichts der täglichen Anschauung von „drüben“ seine Glaubwürdigkeit. Der Zauber des Zauberspiegels ist hier gebrochen.

In Westdeutschland breitet sich das Fernsehen in den sechziger Jahren rasant aus, ein Zweites Deutsches Fernsehen geht auf Sendung, die ARD startet regionale Dritte Programme. Das Publikum lernt umzuschalten, die Macher beklagen den „Unterhaltungsslalom der Zuschauer“. Später sollen moderne Vorschulprogramme wie „Die Sendung mit der Maus“ und die „Sesamstraße“ die junge TV-Generation fit machen. Der Bildungseifer des Apparats ist ungebrochen.

Die Studentenbewegung begegnet dem Fernsehen ambivalent. Einerseits bezieht auch sie ihre Vietnambilder aus dem Fernsehen, andererseits verdächtigt sie die allabendliche Volksberuhigung der Verhinderung des Aufstands der Arbeitermassen. Einerseits bezieht die Kommune 1 einen spaßrevolutionären Impuls aus dem Ehrgeiz, in die „Tagesschau“ zu kommen, andererseits läßt sich mit dem heiteren Beruferaten „Was bin ich?“ die Welt nun wirklich nicht verändern. Das Fernsehen saugt die neuen Ideen begierig auf: Man lädt die jungen Leute ein mitzumachen, Filme zu drehen, in Foren zu debattieren, sich dem Volk zu erklären.

Bald umfaßt die Perspektive des „Zauberspiegels“ ein erstaunlich breites Spektrum – vom „Goldenen Schuß“ bis zu „Wünsch Dir was“. Das Fernsehen ist nun ein Ort kleinbürgerlicher Innerlichkeit und revolutionären Aufbruchs zugleich. Die Zuschauer staunen, sind aber nicht wirklich verunsichert. Die emotionale Nähe zum Medium verhindert das Auseinanderbrechen der universellen Sehgemeinschaft. Am Ende des Jahrzehnts landet ein Mann auf dem Mond, und das Fernsehen überträgt seine ersten Schritte live in die Wohnstuben.

Lange läßt sich diese Harmonie allerdings nicht mehr aufrechterhalten. Mit der flächendeckenden Ausbreitung des Fernsehens (1975 besitzen 93 Prozent aller Haushalte ein Gerät) verfestigen sich einander unversöhnlich gegenüberstehende Sehgewohnheiten und Ansprüche: „Die Massen“ bestehen auf mehr „unpolitischer“ Unterhaltung, wie sie Hans Rosenthal mit „Dalli-Dalli“ vorführt, das „intellektuelle Milieu“ besteht auf der kritischen Auseinandersetzung der Politmagazine „Panorama“ oder „Monitor“.

Mit dem aufgekündigten TV-Konsens geht das übergreifende Sendungsbewußtsein flöten. Die Zeiten der televisionären Volkshochschule sind vorbei, die Macher müssen sich einen neuen Programmauftrag suchen. Die Sendeinhalte polarisieren sich: Einerseits werden gesellschaftliche Konflikte jetzt radikaler benannt – dann schaltet sich der Bayerische Rundfunk gern aus dem ARD-Verbund aus. Andererseits gefällt sich das Pantoffelkino immer mehr darin, Kurzweil und Fernweh zu kultivieren. Noch ist keine mediale Versöhnung zwischen Programmauftrag und Masseninteresse gefunden.

Sie kommt endgültig 1978 mit dem US-Mehrteiler „Holocaust“. Die Serie geht mit ihrem Thema nicht mehr nur im klassischen Sinne erzieherisch um: Das fiktionalisierte Schicksal der jüdischen Familie Weiss wird nach dramaturgischen Prinzipien erzählt. „Holocaust“ trifft die Deutschen mitten ins Herz, die Einschaltquoten sind gigantisch. Endlich hat das Leitmedium eigene Mittel gefunden, sich am gesellschaftlichen Diskurs zu beteiligen. Schon zuvor wurde das Publikum mit zeitkritischen Fernsehserien wie „Unser Walter“ (über ein mongoloides Kind, 1974) oder der Satirereihe „Ein Herz und eine Seele“ (1974) bombardiert. Aus Amerika brachte Dietmar Schönherr die Idee der Talkshow mit: „Je später der Abend“. Hier konnte erstmals über (fast) alles geredet werden. Auch über den Bart, den sich Schönherr stehen ließ. Damit war das Maß für die Fernsehgemeinde voll: Der Bart muß ab.

Mit der politischen Wende Anfang der achtziger Jahre ändern sich die Rahmenbedingungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens: Das Privatfernsehen soll neue Vielfalt und vor allem wirtschaftlichen Wettbewerb in die Medienlandschaft bringen. Zunächst bleibt die Definitionsmacht von ARD und ZDF unangetastet, die private Konkurrenz übt sich noch pubertär in allerhand Tabubrüchen.

Als im Frühjahr 1989 der Eiserne Vorhang löchrig wird, verhilft dieses Ereignis ARD und ZDF zu letzten Sternstunden: Unermüdlich schwärmen die Übertragungseinheiten aus, um live und in Farbe den Zerfall des Ostblocks zu dokumentieren. Dabei schlüpft das Fernsehen noch einmal in seine alte Rolle als politischer Mentor. Es zeigt die protestierenden Massen und gen Westen fahrende Ausreisezüge und übermittelt so täglich Anschauungsmaterial für noch unentschlossene DDR-Bürger. Die neue Freiheit kann im Fernsehen probiert werden.

Im größer gewordenen, nun vereinten Deutschland gewinnen die Privaten zunehmend an Bedeutung – Nachholbedarf Ost. Dem wirtschaftlichen Druck zur Formatierung von Fernsehen steht eine größere Angebotsvielfalt gegenüber, die es erlaubt, jeden gesellschaftlichen Diskurs nun auch „on the air“ zu führen.

Die Möglichkeit, in am Fließband produzierten Talkrunden ein Millionenpublikum zu erreichen, hilft vor allem sozialen Randgruppen und Minderheiten zu neuem Selbstbewußtsein. Schwule und Behinderte, Gummifetischisten und Taubstumme erläutern nun bundesweit ihre Lebensentwürfe, jetzt kann man auch Liebeserklärungen und Schuldeingeständnisse auf großer Bühne absetzen. Dabei werde das Fernsehen, so seine Kritiker, effektheischender, emotionaler und auch unpolitischer. Die systemkritische Auseinandersetzung der siebziger Jahre ist im „Confro-Talk“ zur medialen Pose geronnen, bei „Fliege“ oder „Meiser“ halten nun die Exhibitionisten hof. Mitte der neunziger Jahre lassen sich mehr als dreißig Kanäle rund um die Uhr empfangen, in den Haushalten stehen jetzt im Schnitt zweieinhalb Fernseher. Längst sitzt nun jeder vor seinem eigenen Fenster zur Welt und zappt sich individuell durch eine komplexe und zugleich ausdifferenzierte Gesellschaft.

Als die Schwiegertochter von Queen Elizabeth II. im Sommer 1997 tödlich verunglückt, wiederholt sich Geschichte. Die BBC überträgt die Beisetzung von Lady Diana in 187 Länder. Allein in Deutschland sehen sechzehn Millionen Menschen zu, die Einschaltquoten verteilen sich zu gleichen Teilen auf die vier ausstrahlenden Sender ARD, ZDF, RTL und Sat.1.

Überall ist das gleiche zu sehen.

Klaudia Brunst, 34, sah den Mann auf dem Mond im Fernsehen. Als Wiederholung