Ödipale Mißwirtschaft

■ Ralf Rothmanns „Flieh, mein Freund!“

Louis ist schüchtern und mutlos; er leidet unter Kurzsichtigkeit, Problemen mit Mädchen und einer allgemeinen existentiellen Desorientierung. Darum hat er das Gymnasium abgebrochen und jobbt in einem Copy-Shop, sinniert über sein sinnloses Leben und schiebt die Schuld daran seiner mißglückten Erziehung in die Schuhe. Wie glücklich hätte er sein können, hätte das Schicksal ihm bloß eine „intakte Familie“ gegönnt, mit „Geburtstagstorte“, „Weihnachtsgans“ und ein paar anderen Zeichen der ödipalen Intimität.

Doch leider sind Louis' Eltern ein archetypisches Achtundsechziger-Pärchen. Sie haben sich bei einer Anti-AKW-Demo kennengelernt und sind nach kurzer Kopulation wieder auseinandergegangen. Während Mutter Mary nach einem geplatzten Heroinschmuggel für einige Jahre in Gefängnis und Psychiatrie gelandet ist, verwandelte sich der Vater flugs vom „Radikal“-Redakteur zum businessman. Als Alleininhaber in einer Werbeagentur müht er sich nun erfolglos darum, seinen Sohn für den Juniorchef-Posten zu interessieren.

Flieh, mein Freund!, der neue Roman von Ralf Rothmann, handelt von der wiedererwachten Sehnsucht nach dem kleinen Familienglück, die man neuerdings „postbürgerlich“ nennt. Am Beispiel des jungen Louis erscheint sie als bizarre, aber einstweilen unumgehbare Konsequenz aus dem kläglichen Scheitern der Hippie-Emanzipation: „Keine Generation dieses Jahrhunderts hat so viele Hoffnungen und Chancen gehabt – und keine so viele vergeigt.“ Die lustige Schilderung seines Stadtneurotikerlebens gipfelt im komischen Befremden den eigenen Eltern gegenüber. Dabei läßt die ostentative Verachtung, mit der Louis die Metamorphose seines Vaters quittiert, von diesem nur eine Witzfigur zurück. Die „kompliziertere“ Geschichte seiner Mutter Mary hingegen wird mit einer Art Faszination am Unverstehbaren geschildert, die sich auch für Details interessiert.

Nun sind aber gerade diejenigen Stellen, an denen sich Rothmann um mehr Differenzierung bemüht, literarisch am wenigsten geglückt. Wenn sich der 45jährige Autor um psychologische Empathie bemüht, wirken seine Schilderungen angestrengt; wo der Text hingegen unbeschwert Anti-Hippie-Witze erzählt, ist er flüssig und flott formuliert. Man ahnt, daß diese beiden Tonlagen als Kontrapunkte gedacht sind, doch der Konstruktion des Romans fehlt die Konsequenz, die es bräuchte, um sie tatsächlich in Resonanz zu versetzen.

Jens Balzer

Ralf Rothmann: „Flieh, mein Freund!“, Frankfurt am Main 1998, Suhrkamp, 278 Seiten, 39,80 Mark; Lesung: heute, 20 Uhr, Literaturhaus