Die Kultur hat viele Falten

■ Kultur ist nie einfach und rein. Die staatliche Kunstförderung in England hat das erkannt und setzt auf das Prinzip der kulturellen Vielfalt. Nationales Leiterbe ist nicht länger gefragt, sondern Offenheit für

taz: Sie unterscheiden zwei Formen nationaler Identität. Die eine beruft sich auf einheitliche Wurzeln, die andere ergibt sich aus der gleichzeitigen Wirkung verschiedener kultureller Einflüsse. Wie sehen Sie Ihre eigene Identität? Basiert sie eher auf Wurzeln oder auf gegenwärtigen Einflüssen?

Naseem Khan: Ich bin geboren in England, die Schule hat mir englische Empfindungswelten vermittelt. Gleichzeitig war da meine deutsche Mutter, in Kriegszeiten, und mein indischer Vater, als Indien sich von England löste. Wo sind da die Loyalitäten, wo die Wurzeln? Solche Fragen wurden damals oft gestellt, aus dem Glauben heraus – wie in Deutschland wohl auch –, daß Identität simpel und pur ist. In den letzten zehn Jahren hat sich das geändert. Es gibt diese Agonie des „Wer bin ich?“ nicht mehr. Der britische Kulturtheoretiker Stuart Hall, der selbst aus Jamaika kommt, sagt, es ist jetzt möglich, „Black British“ zu sein. Schwarze in Großbritannien können sich gut dabei fühlen, schwarz und britisch zu sein.

Sie sagen, man muß sich nicht über nationale Wurzeln definieren. Aber es gibt doch auch einen typisch britischen Rassismus, wie bei dem Skinhead, der „Made in Britain“ auf seinen Hinterkopf tätowiert.

Nichts ist einfach. Auf der einen Seite gibt es Widerstand gegen Veränderung. Auf der anderen wächst die Einsicht bei der Intelligenz, bei den Politikern, daß Großbritannien multikulturell ist. Museumsmacher stellen fest, daß die alte Interpretation der britischen Geschichte nicht länger akkurat ist. Die Idee des glorreichen „Empire“ kann man neuen Bevölkerungskreisen nicht verkaufen. Was ist unsere Vorstellung von Identität? In vielerlei Hinsicht ist sie ein Konstrukt, das es uns ermöglicht zu funktionieren. Nun müssen wir das Konstrukt dekonstruieren.

Wie steht es denn nun um den offiziellen Aktionsplan zur Umsetzung kultureller Vielfalt? Auf der einen Seite sagen Sie, daß sich viel verändert hat in den letzten zwanzig Jahren. Auf der anderen Seite klingt es, als ob die zuständigen Gremien erst noch erzogen werden müßten.

Ein Beamter, der für Stadterneuerung zuständig ist, denkt nicht automatisch: „Moment, da ist doch noch diese indische Gemeinde. Wie kann ich die einbinden? Die Kommunikationskanäle zwischen den kulturellen Gemeinden sind nicht etabliert. Wir haben eine Untersuchung durchgeführt über indische Vorstellungen von Freizeit, in einer Stadt mit einem indischen Bevölkerungsanteil von 30 Prozent. In den öffentlichen Freizeiteinrichtungen war kein Inder. Wir haben 300 Leute gefragt: „Warum?“ Es war das erste Mal, daß sie konsultiert wurden. Die Leute kamen aus Dörfern im Punjab, die Idee von Hobbys war ihnen völlig fremd. Die Vorstellung, in ein Fitneßcenter zu gehen, um gesund zu bleiben, war für sie abwegig.

In der mittelenglischen Stadt Bradford gab es vor ein paar Jahren eine große Debatte. Der liberale Stadtrat befand sich in dem Dilemma, eine islamische Mädchenschule zuzulassen, die selbst nicht Liberalität, sondern Fundamentalismus propagierte.

Erstens ist Fundamentalismus ein Wort, das Muslime nie gebrauchen. Der Islam als Religion ist nicht fundamentalistisch. Es handelt sich um einen Akt des Glaubens. Zweitens wird Fundamentalismus geschaffen durch ein Gefühl der Machtlosigkeit und der Diskriminierung durch die westliche Gesellschaft. Er ist eine Reaktion und nicht ein innerer Faktor

Heißt das, Intoleranz verschwindet, sobald Macht da ist?

Sie wird zumindest geringer.

Wie sieht es mit kultureller Vielfalt in Deutschland aus. Was ist Ihr Eindruck?

Wir sind uns in England sehr bewußt, daß Einwanderer als Gastarbeiter angesehen werden, die nur eine Zeitlang bleiben. Ich selbst denke bei Deutschland mehr an seine Hochkultur, an Beethoven und Goethe.

Damit definieren Sie Kultur im elitären Sinn von Kunst. Wie sieht es mit der Alltagskultur aus?

Die Kinder auf der Straße interessieren sich doch auch für schwarze Musik, für Rap...

...weil es schwarze Musik ist, nicht weil sie kulturelle Vielfalt repräsentiert.

Macht das einen Unterschied? Die Vorstellung nebeneinander herlaufender Welten ist allerdings noch sehr stark. Wir wollen klarstellen, wie wenig die ethnischen Minderheiten in einflußreichen Positionen vertreten sind. Es ist unwahrscheinlich, daß ein Schwarzer das Nationaltheater leitet, aber er kann ohne weiteres ein schwarzes Theater leiten. Das reicht nicht. In der Wirtschaft gibt es solche Durchbrüche. Die Künste sind viel langsamer. Sie glauben, die Avantgarde zu sein, die Geschäftswelt ist aber viel erfolgreicher damit, Integration zu erreichen.

Interkulturalität steht für Sie im Mittelpunkt. Wäre für Sie eine türkische Theatergruppe, die für ein türkisches Publikum spielt, nicht förderwürdig?

In diesem Fall würden wir sicherstellen, daß Nichttürken nicht das Gefühl bekommen, unerwünscht zu sein.

Wenn das Stück aber in Türkisch ist?

Es ist klar, daß nicht alles für jedermann zugänglich ist. Das hieße ja, Oper dürfte nicht gefördert werden, weil nicht alle Leute etwas mit Opern anfangen können. Wir müssen die unbewußten Blockaden identifizieren, die es in den Köpfen gibt. Ein Freund von mir tut einmal im Jahr etwas, was ihm ziemlich schwerfällt. Seine Kinder bestehen darauf, daß er während des Nationalen Pferderennens in ein Wettbüro geht, um auf ein Pferd zu setzen. Er ist immer ganz aufgeregt, weil er weiß, er kennt die Verhaltensregeln dort nicht. Das verschafft ihm aber eine Einsicht, wie Menschen sich fühlen, die das erste Mal in ein Theater gehen. Wir richten uns immer an unseresgleichen. Es ist aber wichtig, Leute beizubringen, die anders sind.

Die Multikulti-Idee wird in Deutschland mittlerweile recht abschätzig behandelt. Die Rücknahme des Gesetzes über zweisprachige Erziehung in Kalifornien wird zum Beispiel auch in liberalen Kreisen positiv beurteilt.

Bei uns gab es auch großen Widerstand ethnischer Gemeinden dagegen, daß ihre Kinder aus der Klasse genommen und in Bengali unterrichtet werden. Die Eltern wollen das nicht. Sie wollen – wie meine Eltern –, daß ihre Kinder englisch werden, so schnell wie möglich.

Da sind wir dann bei der Vorstellung einer Leitkultur, die Sie ja zu Recht nicht teilen.

Wenn man auf die Preisträger des Booker-Prize schaut [des wichtigsten Literaturpreises in Großbritannien], dann sind es oft Leute mit nichtenglischem Hintergrund: Kazio Ishiguro, Salman Rushdie, Arundhati Roy. Ethnische Erfahrung und dominante Kultur fließen ineinander. Das muß man ermutigen. Mir gefallen die Arbeiten von Homi Bhabha, dem anglo-amerikanisch-indischen Kulturtheoretiker, sehr gut. Er sieht seine eigene Heimat zwischen den Kulturen. Das ist für ihn ein reiches und kreatives Potential.

Dasselbe trifft ja auch auf Salman Rushdie zu. Es wäre natürlich noch interessanter, wenn das auch „gewöhnliche“ Kinder und Kindeskinder von Immigranten über sich sagen würden und nicht nur die Intellektuellen.

In Großbritannien ist das der Fall. Es ist eine Frage der Zeit. Die Kinder erhalten eine Ausbildung. Das macht es ihnen leichter, zu beiden Welten zu sprechen.

Danke.

Interview: Martin Hager