„Ich konnte die Lügen nicht aushalten“

1968 trat der Arbeiter Vasile Paraschiv aus der Kommunistischen Partei Rumäniens aus. Unzählige Schikanen, Verhaftungen und Einweisungen in die Psychiatrie waren die Folge. Heute lebt er zurückgezogen als Rentner  ■ Aus Ploiesti Keno Verseck

Der Mann muß beim ersten Geräusch an der Tür gelauscht haben. Er steht im leeren Treppenhaus und blickt mit Aufsehermiene auf den Fremden herab: der Typ des vorzeitig in den Ruhestand versetzten Pförtners, der nun mit heimlicher Begierde spitzelt. „Was machen Sie hier und zu wem wollen Sie“, fragt er barsch. Als er die geforderte Auskunft nicht erhält, schimpft er und gestikuliert mit dem Zeigefinger. Dann verschwindet er beleidigt in seiner Wohnung.

Vasile Paraschiv wohnt ganz oben, im vierten Stock. Er kennt solche Szenen. Es ist nur ein paar Jahre her, da wurde der ganze Neubaublock noch von Geheimpolizisten überwacht. Niemand durfte ihn ohne Ausweiskontrolle betreten.

Ploiesti, rumänisches Petrochemiezentrum, eine Autostunde nördlich der Hauptstadt Bukarest. Die Stadt liegt in einer weiten Tiefebene. Aus der Ferne wirken die schmalen Schornsteine wie riesige, flackernde Kerzen. Ein Pilz aus schwarzbraunem Dunst hängt über der Stadt. Sie ist von einem Ring aus Chemiekombinaten und Neubauvierteln umgeben. Überall verkehren alte DDR-Busse und -Straßenbahnen. Postkommunistische Geschenke für das einstige sozialistische Bruderland. Auf einigen steht noch ein Gruß vom Absender: „Potsdam grüßt Ploiesti“.

In Ploiesti begann vor dreißig Jahren die öffentliche Geschichte des Arbeiters Vasile Paraschiv – eines Mannes, dessen Mut im Rumänien Ceaușescus seinesgleichen suchte. Doch den meisten Menschen ist er heute ein Unbekannter. In den Widerstandschroniken der vielen selbsternannten Dissidenten taucht sein Name nicht auf. Vasile Paraschiv lebt heute zurückgezogen als Rentner.

Er wurde 1928 in einem kleinen Dorf bei Bukarest geboren. Seine Eltern waren Bauern. Mit 18 Jahren, gleich nach dem Krieg und zwei Jahre vor der Errichtung der Diktatur, trat er in die Kommunistische Partei ein. Später holte er das Abitur auf einem Abendgymnasium nach, wurde Fernmeldetechniker und arbeitete im petrochemischen Kombinat Brazi nahe Ploiesti.

„Damals hatte ich den Kopf voller Ideale von Freiheit und Gerechtigkeit“, erzählt Vasile Paraschiv. „Mit der Zeit fielen mir dann Widersprüche auf zwischen dem, was die Partei sagte, und dem, was ich in der Wirklichkeit sah. Ich habe mir oft gesagt: Wenn ich schweige, dann unterstütze ich die Diktatur. Aber bis ich anfing, etwas zu tun, war es ein langer Weg.“

Im November 1968, nach 22 Jahren Parteimitgliedschaft, beschließt Vasile Paraschiv, nicht mehr zu schweigen. Auf einer Betriebsversammlung verkündet er seinen Austritt aus der Partei. Er kritisiert, daß die Arbeiter im rumänischen Arbeiterstaat keinerlei Rechte mehr hätten, sondern unterdrückt würden.

Parteifunktionäre und Securitate-Offiziere versuchen danach tagelang, ihn „im guten“ von seiner Haltung abzubringen. Vergeblich. Paraschiv wird nun überwacht, am Arbeitsplatz schikaniert und im Juli 1969 erstmals verhaftet. Vorsorglich – denn US-Präsident Richard Nixon besucht Nicolae Ceaușescu. Während die beiden sich vom Volk bejubeln lassen, hält die Securitate Vasile Paraschiv in der Psychiatrie der Kleinstadt Urlati, westlich von Ploiesti, gefangen und läßt ihn erst wieder frei, als der US-Präsident abgereist ist. „Ich hatte bis dahin keine Ahnung, daß solche Methoden überhaupt existieren“, sagt Vasile Paraschiv.

Die Securitate wendet sie in den folgenden Jahren konsequent an. Paraschiv wird regelmäßig verhaftet, verprügelt und in Psychiatrien interniert, weil er Meinungsfreiheit, Parteienpluralismus und Streikrecht fordert, und weil er sich mit dem oppositionellen Schriftsteller Paul Goma solidarisiert. Weil der Diktator kein Aufsehen um politische Gefangene wünscht, kommt Paraschiv nicht ins Gefängnis. Statt dessen gibt die Securitate ihm 1977 einen Reisepaß, in der Hoffnung, er werde nicht mehr nach Rumänien zurückkehren. Vasile Paraschiv fährt nach Paris, klagt dort öffentlich die kommunistische Diktatur an und läßt sich von einer Kommission aus prominenten Psychiatern untersuchen. Die stellt fest, daß er völlig normal ist. Vasile Paraschiv will nun wieder nach Rumänien zurückkehren. Doch an der Grenze seiner Heimat wird er abgewiesen. Erst internationale Proteste bewirken, daß er im Juli 1978 wieder nach Rumänien zurückkehren darf.

In den folgenden elf Jahren bis zum Sturz des Diktators Ceaușescu lebt die Familie Paraschiv mit ständigem Terror. Vasile Paraschiv darf die Stadt nicht verlassen und muß sich regelmäßig bei der Securitate melden. Nachdem er 1979 einen Aufruf zur Gründung der freien Gewerkschaft SLOMR unterschreibt, entführen ihn Securitate-Offiziere und schlagen ihn in einem Wald bei Ploiesti krankenhausreif. Ungezählte Schikanen, weitere Verhaftungen und Einweisungen in Psychiatrien folgen. Doch bis zum Schluß schafft es die Securitate nicht, ihn zum Schweigen zu bringen.

Im Dezember 1989, kurz nach dem Aufstand gegen Ceaușescu, rufen ihn Vertreter des späteren neokommunistischen Staatspräsidenten Ion Iliescu als Aushängeschild in die Wendehalsorganisation „Front zur nationalen Rettung“. Vasile Paraschiv soll mithelfen, die Gewerkschaften zu reorganisieren. Doch er wird schnell unbequem und deshalb nach wenigen Monaten aus der „Front“ herausgeekelt.

Einer derjenigen, für die Vasile Paraschiv zu unbequem war, ist Corneliu Ruse, heute ein bekannter Parlamentsabgeordneter der in der Koalition mitregierenden „Demokratischen Partei“. Ruse sagt: „Es war damals schwierig, alle Kommunisten aus den Machtstrukturen zu entfernen, wie Paraschiv es gefordert hat.“ Einem anderen, dem ehemaligen Gewerkschaftsführer und derzeit oppositionellem Parlamentsabgeordneten Miron Mitrea, „tut es leid, daß wir Vasile Paraschiv damals ins Abseits gedrängt haben“.

Vasile Paraschiv lebt heute mit seiner Frau in einer bescheiden eingerichteten Dreizimmerwohnung. Sie kümmern sich um die Enkel. Wenn Vasile Paraschiv erzählt, ist ihm kein Haß und keine Verbitterung anzumerken. Manchmal strahlt sein Gesicht vor Heiterkeit und seine Augen leuchten. Er wirkt nicht wie ein siebzigjähriger Großvater, eher wie ein sanfter jugendlicher Rebell. Er würde sich heute nicht mehr politisch betätigen. Aber er würde gern mit den ehemaligen Tätern reden. „Ich will sie ja nicht beschuldigen“, sagt er. „Ich will nur, daß sie die Wahrheit zugeben. Daß sie sagen: Du warst nicht verrückt.“

Einer der Täter wohnt gleich neben Vasile Paraschiv – im Nachbaraufgang des Neubaublocks: der Psychiater Anton Nicolau. Nicolau erinnert sich nur ungern. Aber er weiß noch alles. Selbst Details. Als Vasile Paraschiv 1977 für anderthalb Monate in die Psychiatrie Sapoca eingewiesen wurde, einem abgelegenen Dorf am Rande der Südostkarpaten, war Nicolau hier Direktor.

„Ja, es stimmt, als er eingeliefert wurde, hatte ihn die Securitate furchtbar zugerichtet“, sagt Nicolau. „Aber wir konnten damals nicht wissen, daß er gegen die Willkür der Partei protestiert hat. Jedenfalls war Paraschiv paranoid, das haben auch andere Ärzte diagnostiziert. Wenn ich ihn in der Psychiatrie nicht beschützt hätte, dann hätte ihm die Securitate Schlimmeres angetan. Ich habe ihm Beruhigungstabletten gegeben. Er hat sie immer wieder ausgespuckt. Ich habe die Schwestern angewiesen, ihn nicht zu zwingen, solange er ruhig bleibt. Psychisch Kranke können sehr ruhig sein und einen dadurch in die Irre führen.“ Nicolau ist ein alter, zittriger Mann. Er war von 1990 bis 1996 Parlamentsabgeordneter für die griechische Minderheit. Heute ist er Ehrenmitglied der rumänischen Akademie der Wissenschaften. Seine Wohnung ist vollgestopft mit Stapeln von Büchern und Papieren. Überall stehen Miniaturnachbildungen griechischer Statuen. An den Wänden hängen Gemälde – manche Kunst, manche Kitsch. Nicolaus Frau ist wütend. Sie glaubt, daß Vasile Paraschiv den Besucher aufgehetzt hat. „Der Mann kann immer noch keine Ruhe geben. Alle Nachbarn hatten nur Probleme wegen ihm.“

Auch ein anderer Täter will in Ruhe gelassen werden: Nicolae Ursescu, bis 1989 stellvertretender Chef der Securitate in Ploiesti. Er koordinierte den „Fall Paraschiv“ über zwanzig Jahre. Heute residiert der Rentner abwechselnd in einer Villa im Prahova-Tal in den Karpaten und in einem Haus in Ploiesti. Telefonanrufe beantwortet er nicht. Falls ein hartnäckiger Besucher ihn zufällig zu Hause antrifft und ihn nach seinem ehemaligen Opfer fragt, weist Ursescu ihm die Tür. „Ich bin Rentner, lassen Sie mich in Ruhe“, ist alles, was er zu sagen hat.

Nur wenige Schritte von Ursescus Haus entfernt liegt die Psychiatrie von Ploiesti. Es ist ein heruntergekommenes Gebäude aus dem vorigen Jahrhundert. In den dunklen, stillen Gängen wandeln Kranke mit glasigen Augen umher. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Hier arbeitet der Psychiater Calin Botez, der 1976 zusammen mit zwei anderen Kollegen auf Anweisung der Securitate versuchte, Vasile Paraschiv dauerhaft in eine psychiatrische Anstalt einzuweisen – ein Vorhaben, daß die Securitate jedoch wieder fallenließ. Botez braust sofort jähzornig auf, als er den Namen Paraschiv hört. „Wenn die Leute an ein Ideal glauben, das sich nicht erfüllt, dann erscheint die Paranoia, das ist doch bekannt“, schreit er.

Keiner der ehemaligen Täter wollte nach 1989 mit Vasile Paraschiv reden. Seine Securitate-Akte hat Paraschiv neun Jahre nach dem Sturz des Diktators noch immer nicht einsehen können. Seine Bücher und Manuskripte, die bei Hausdurchsuchungen beschlagnahmt wurden, liegen irgendwo in Securitate-Archiven. Die einzige Geste kam vom Bürgermeister der Stadt Ploiesti: Er verlieh dem mutigen Mann 1990 den Titel eines Ehrenbürgers der Stadt.

Vasile Paraschiv ist nicht verbittert und nicht enttäuscht darüber, wie es neun Jahre nach dem Sturz des Diktators in Rumänien aussieht. Vielleicht traurig. Doch er sagt es nicht. Er sagt nur: „Es hat keine moralische Reform gegeben. Die alten Parteifunktionäre und Securitate-Offiziere sind immer noch an der Macht.“ Er sagt es nüchtern, so als ob nichts anderes zu erwarten gewesen wäre.

War es in einem solchen Land nicht doch verrückt, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen? Vasile Paraschiv lächelt. „Heute bin ich manchmal selbst überrascht über mich. Ich weiß nicht, ob ich heute noch einmal so protestieren könnte. Vielleicht würde ich heute Angst haben. Damals hatte ich keine Angst. Ich konnte einfach die Lügen, die Demagogie und das Unrecht nicht aushalten.“