Vom Stammeskrieg der ethnischen Fixierungen zu einer pluralen Identität

■ Auf dem Weg zum Bürgerstaat (3): Mit dem zweiten Paß ist es nicht getan, die Deutschen brauchen eine Kulturrevolution in den Köpfen

Was eint, was teilt eine Gesellschaft? Darüber gibt es immer Streit. Die Art und Weise, wie über Unterschiede gesprochen wird, ist entscheidend für den Charakter einer Gesellschaft. In archaischen, totalitären Gesellschaften und in unterentwickelten Demokratien wird mehr über Gruppen als über Individuen gesprochen. Der einzelne geht in der Gruppe auf. In einer freiheitlichen, offenen Bürgergesellschaft dagegen steht der einzelne im Mittelpunkt. Er kann vielen verschiedenen Gruppen angehören. Die Grenzen zwischen den Gruppen sind durchlässig. Die Gesellschaft ist dynamisch und in ständigem Wandel.

Obwohl die Bundesrepublik ein technologisch hoch entwickeltes Land mit einer gut funktionierenden Demokratie ist, wird die Diskussion über die Einwanderer vor allem mit archaischen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern geführt. Das Ganze erinnert mehr an Stammeskriege als an eine rationale, pragmatische Auseinandersetzung in einer pluralistischen Demokratie. Da stehen sich Türken und Deutsche gegenüber, Ausländer und Inländer. Die Differenzen folgen ausschließlich ethnischen Fixierungen und sehr groben kulturellen Zuordnungen wie Muslim oder Christ.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der vieles Fragment und fast gar nichts mehr einheitlich ist, und jeder einzelne spiegelt dieses Fragmentarische wider. Die Differenzen können nur anhand von Wertvorstellungen und Lebensanschauungen diskutiert werden. Die Nation ist keine große Familie, die sich über Blutbande definieren läßt. Wer wählt seine Freunde und Denknachbarn nach Nationalität und Volkszugehörigkeit aus? Gruppen bilden sich nach sozialem Status, nach den Wertvorstellungen und gemeinsamen Interessen. Wenn die biologischen Vorgaben wie ethnische Zugehörigkeit oder Geschlechtsidentität in den Vordergrund der Betrachtung rücken, werden künstliche Gruppen konstruiert, die es zwar in archaischen Gesellschaften geben mag, die unserer Lebenswirklichkeit aber nicht mehr entsprechen.

Dennoch bildet ähnlich wie „der warme Schoß der Familie“ auch „die Nation“ eine Metapher der Sehnsucht nach einer wohlgeordneten Welt. Die Nazi-Ideologie hat diese Sehnsüchte reflektiert und entsprechend mißbraucht. Es ist erstaunlich, daß die deutschen Konservativen, die in ihrem überwiegenden Teil den Nationalsozialismus ablehnen, sich dennoch von Denkstrukturen wie diesen leiten lassen. Nationale Ideologie läßt sich in ethnisch heterogenen Gesellschaften nicht mehr wie in einer Stammesgesellschaft konstruieren. Es findet vielmehr eine stetige Auseinandersetzung, ein Jonglieren um Werte, Lebensanschauungen und Zugehörigkeiten statt. Nationale Identität löst sich immer mehr in kulturelle Identitäten auf, die sich selbst als Gruppenidentitäten nicht mehr erfassen lassen. Der Saxspieler ist kein HipHop-Sänger, und ein Dritter übt bereits an der scheinbar unmöglichen Synthese der beiden Spielarten.

Nichts ist unmöglich, aber nicht jede Möglichkeit wird im Jahrmarkt der Identitäten auch wahrgenommen. Die moderne Bürgergesellschaft braucht wache, spielfreudige Protagonisten, ausgestattet mit einer guten Portion Selbstironie. Finstere Verwalter von Sitzfleisch erweisen sich dagegen als untauglich. Zugegeben, diese Gesellschaft ist alles andere als heimelig. Aber sie bietet ihren Mitgliedern ein hohes Maß an Selbstverwirklichung und Freiheit. Sie entfesselt ihre kreativen Fähigkeiten. Sie ist dynamisch, und sie ist die Zukunft.

Deutschland braucht jetzt nicht nur eine Paßreform. Deutschland braucht auch eine Kulturrevolution, die die atavistischen Denk- und Verhaltensschemata gegenüber den „Fremden“ auf die Höhe der Moderne bringt, eine Veränderung in den Köpfen, einen Perspektivwechsel.

Es kann nicht überraschen, daß die Paßreform die konservativen Kräfte in Deutschland besonders provoziert. Das moderne und liberale Deutschland muß jetzt gegensteuern. Es genügt nicht, einfach nur ein neues Gesetz zu beschließen. Es muß auch an einer Bewußtseinsveränderung gearbeitet werden, die sicher eine längere Zeit in Anspruch nehmen wird. Die Folgen dieser Reform müssen offen benannt und diskutiert werden. Die Akzeptanz gegenüber den neuen Bürgern muß eine breitere Basis in der Bevölkerung bekommen, als es heute schon der Fall ist. Hier sind auch die neuen Bürger gefragt. Es besteht durchaus die Gefahr, daß die neuen Bürger zu „Ausländern mit deutschem Paß“, zu „Auch-Deutschen“ werden, die zwar das Wahlrecht haben, aber deswegen noch lange nicht selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft sind.

Der Paßreform müßte eine Kulturoffensive folgen. Angesichts leerer öffentlicher Kassen sind auch private Initiativen von großer Bedeutung. Vor allem die deutsch- türkischen Unternehmer, die inzwischen über ein beträchtliches Vermögen verfügen, sind hier herausgefordert. Sie haben bisher kaum einen Beitrag für das kulturelle Leben der Einwanderer geleistet. Sie profitieren in besonderem Maße von der doppelten Staatsbürgerschaft, die ihnen freie Unternehmerrechte in Deutschland, in der ganzen Europäischen Union und in der Türkei garantiert. Diese Rechte kommen natürlich auch der deutschen Wirtschaft zugute. Die Gründung einer deutsch-türkischen Stiftung war ein richtiger Schritt. Aber diesem ersten Schritt müssen weitere folgen.

Wäre es nicht hilfreich, einmal über die Grenzen Deutschlands zu schauen? In den USA beispielsweise wird Bildung und Kultur in hohem Maße auch von privater Hand gefördert. Viele Einwanderer stärken so ihre Stimme in der Gesellschaft, werden sichtbar und üben Einfluß aus. Sie investieren mit dieser Kulturarbeit auch in ihr Selbstwertgefühl. Es ist beispielsweise kläglich, daß es noch keine nennenswerte deutschsprachige Medienszene der deutschen Türken gibt. In jeder größeren deutschen Stadt müßten deutsch-türkische Kulturzentren entstehen, die den Dialog in die deutsche Gesellschaft tragen. Ein deutsch-türkisches Jugendwerk, schon vor Jahren einmal angedacht, hätte ebenfalls große Aufgaben.

Auch der Islam muß langsam ein einheimisches Gesicht bekommen. Die großen Moscheebauprojekte sind dabei ebenso wichtig, wie ein offener und öffentlicher Diskurs über die islamische Religion in deutscher Sprache. An den deutschen Universitäten müßten Lehrstühle für die Geschichte und Kultur der deutschen Türken eingerichtet werden. Auch die Lehrerausbildung für islamischen Religionsunterricht wäre eine Angelegenheit von einem Studiengang „Islam fürs Lehramt“. Das sind nur einige wenige Beispiele für einen Maßnahmenkatalog, den die Bundesregierung und die Länderregierungen mit den betreffenden Vereinigungen der deutschen Türken, die es längst gibt, ausarbeiten müßten, wenn das Schlagwort von der Integration ernst gemeint ist.

Besonders herausgefordert ist jetzt, neben der Ausländerbeauftragten, der Kulturbeauftragte der Bundesregierung. Dieser aber tut bis jetzt so, als gingen diese Fragen ihn gar nichts an. Es ist töricht, daß Thema der Einwanderung nur als eine Aufgabenstellung des Innenministers zu betrachten. Eine deutsche Bürgergesellschaft auf liberalen, weltoffenen Grundsätzen kann sich nur dann entwickeln, wenn Menschen, die das kulturelle und geistige Leben in diesem Land gestalten, aktiv werden und sich den Fragen und Herausforderungen stellen. Eine sprach- und dialoglose und damit auch kulturlose Form der Bürgergesellschaft kann es nicht geben.

Statt einen ideologischen Kampf um Begriffe wie Identität und Zugehörigkeit zu führen, brauchen wir mehr Pragmatismus und Ideen, die zu Taten führen. Nicht die Zahl der Talkshows zum Thema doppelte Staatsbürgerschaft ist entscheidend für den Erfolg der Paßreform. Sondern es geht um ein gut durchdachtes, in der Gesellschaft diskutiertes, mit ihr abgesprochenes und nicht zuletzt in die Tat umgesetztes Programm. Zafer Senocak