: Kulissen leben am Rande der Stadt
Die Ausstellung „Peripherie als Ort – Das Hellersdorf Projekt“ in der NGBK zeigt, wie vier Fotografen den Bezirk sehen. Die Arkaden liegen nicht nur am Potsdamer Platz sondern auch in der Kurt-Weill-Gasse ■ Von Michael Nungesser
Hellersdorf ist in die Hitlisten der Berliner In-Bezirke geraten. Nur so läßt sich der massive Andrang zur Eröffnung einer Fotoausstellung erklären, in der es um die letzte große Plattenbausiedlung aus DDR-Zeiten geht. Zu sehen sind die Fotos nicht vor Ort, an der Peripherie der Großstadt, sondern mitten im innerstädtischen Kreuzberger Kiez. Ein gewisser exotischer Kick kommt also hinzu: der Blick auf das Phänomen Hellersdorf. Gezeigt werden nicht dokumentarische Fotos (die finden sich z.B. im jüngst von der Wohnungsbaugesellschaft Hellersdorf herausgegebenen Buch „Quartierskonzept Hellersdorf“), sondern die individuellen Bildzeugnisse von drei Fotografen und einer Fotografin, die im Osten Deutschland ausgebildet wurden.
Woher kommt das geballte Interesse für Hellersdorf? Die Stadt vor der Stadt ist 1979 entstanden, nach Marzahn und Hohenschönhausen, auf ehemaligen Rieselfeldern aus dem Boden gestampft. Die inzwischen über hunderttausend meist jungen Bewohner der Siedlung hatten anfangs mit den typischen Vorurteilen gegenüber der Trabanten- und Schlafstadt zu kämpfen: Monotonie, Künstlichkeit, Verwahrlosung, Aggression. Abstieg und Verfall erschienen der Planung inhärent.
Doch es kam anders: Zwar traten schon früh bauliche Mängel auf, aber nach der Wende tat die verantwortliche Wohnungsbaugesellschaft alles, um durch gestalterische Mittel nicht nur die Architektur, sondern auch den natürlichen und sozialen Lebensraum vielfältig und wiedererkennbar zu machen. Inzwischen liegt Hellersdorf schon auf den Routen touristischer Busunternehmen.
Die in den Räumen der gastgebenden Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst stattfindende Ausstellung hat eine Vorgeschichte: Initiator und Leiter des Projekts ist Ulrich Domröse, Kurator für Fotografie an der Berlinischen Galerie. Er fand in der Wohnungsbaugesellschaft Hellersdorf und ihrem damaligen Geschäftsführer, Jack Gelfort, einen aufgeschlossenen und finanzkräftigen Partner, der es ermöglichte, daß Anfang des letzten Jahres aus vier in Berlin lebende Fotografen ausgewählt wurden. Sie erhielten ein fünfmonatiges Stipendium, um – wie es im Vorwort des die Ausstellung begleitenden großformatigen Buches heißt – „die gegenwärtige Entwicklung des Ortes mit künstlerischen Mitteln zu reflektieren“. Zu den Fotografen Max Baumann, Helga Paris, Jens Rötzsch und Ulrich Wüst traten noch drei Textautoren – Alexander Osang, Rolf Schneider und Gerwin Zohlen –, die sich auf ihre Weise des Themas annahmen.
Die unterschiedliche Sichtweise auf Hellersdorf spiegelt sich in den Arbeiten wider. Zwei der Beobachter mit der Kamera suchten nach Menschen: Helga Paris stellt in ihren schwarzweißen Porträts auf Silbergelatinepapier einzelne Schülerinnen und Schüler einer Klasse vor, daneben Gruppen wie Brautpaar, Lebenspartner, Sportsfreunde, Kolleginnen, Familie mit Kind, Geschwister... Alle sind vor neutralem Hintergrund abgebildet, sehr nahe und persönlich, obgleich doch die Bekanntschaft zwischen Fotografin und Gegenüber erst durch die Aufnahme zustande kam. Auch Jens Rötzsch widmet sich den Bewohnern von Hellersdorf. Aber seine quadratischen Colorprints zeigen sie draußen – beim Kaufen, Spielen, Spazierengehen, Hundausführen: aus ungewöhnlichen Perspektiven oder fast beiläufig in schrillbunten Farborgien.
Die beiden anderen Beobachter halten sich an die Dinge: Natur und Kultur, Erde und Straße, Pflanzen und Häuser. Max Baumann sucht nach Struktur und Material. Wie Rötzsch arbeitet auch er mit ungewöhnlichen Blickwinkeln. Andererseits verzichtet Baumann auf Dramatik oder weitläufige Szenarien, vielmehr bleibt er ganz nah am Objekt und führt sie eng an der Wirklichkeit. In „Herkunft“ – schwarzweiße Barytabzüge in Dreiergruppen – stehen landschaftliche Oberflächen konstruierten gegenüber; seine Ilfochrome, denen Begriffe wie „Wald/Tor“, „Rain/Gang“ oder „Ruf“ zugeordnet sind, stellen Astgabelungen dem Röhrengeflecht einer Skulptur und wilde Gräser den gefrorenen Spuren einer Betonpiste gegenüber. Schließlich ein letzter Blick auf Hellersdorf, mit dem Kamera- Auge von Ulrich Wüst: Schwarzweißaufnahmen auf Silbergelatinepapier, Großansichten wie auch Tableaus aus Kleinbildern. Alles identifizierbare Orte und Bauten, Straßen und Plätze, U-Bahnhöfe und Einkaufszentren, Parks und Skulpturen, scharf gezeichnete Kulissen – (fast) ohne Menschen.
„Das eigentliche Leben vollzieht sich in Innenräumen“, meint Rolf Schneider in seinem Text. Es ist merkwürdig, daß genau dieses Leben in den Fotos nicht auftaucht. Dazu bedürfte es einer anderen Herangehensweise, die hier nicht zur Debatte steht. Vier Besucher sind nach Hellersdorf gekommen und haben jeder auf seine Weise Einblick genommen in das Phänomen Hellersdorf: von außen und zugleich kritisch, sensibel und subjektiv. Keine holzverkleideten Balkone und Mietergärten kommen näher ins Bild, keine bunten Fliesen, Wandbilder und merkwürdigen Dachskulpturen. Die verschönernden städteplanerischen Maßnahmen tauchen höchsten aus der Distanz oder nur am Rande auf. Nicht, weil sie ignoriert oder abgelehnt würden. Hinter der Sonnenseite erscheint der Alltag. Allzu fremd ist er nicht. Die Peripherie ist nahe. Bei einem Foto von Wüst dachte ich: Arkaden am Potsdamer Platz. Es ist die Kurt- Weill-Gasse in Hellersdorf.
Bis 14.2., tgl. 12–18.30 Uhr, NGBK, Oranienstraße 25; Katalogbuch: Arnoldsche Verlagsanstalt 58 DM (Buchhandel 68 DM)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen