: Der neue, alte Patriotismus
■ In Rußland wird der Antisemitismus wieder gesellschaftsfähig. Und die Liberalen und Reformer haben kein wirksames Mittel dagegen
Der Fremdenhaß ist wohl das äußerste Mittel, um sich nach einer politischen Niederlage wieder bemerkbar zu machen. Aber es funktioniert, zumindest in Rußland. Noch nie hatte sich die russische Öffentlichkeit mit ihrem eigenen Judenhaß konsequent auseinandergesetzt. Nicht einmal während der Herrschaft der KP, die vorgeblich den Antisemitismus verurteilte. Heute machen sich ihre Nachfolger die traditionelle russische Judenfeindlichkeit ohne Zaudern zunutze.
Nach der August-Krise warteten die Kommunisten gespannt darauf, daß ihnen die Macht in die Hände fiele. Sie bereiteten spontane Aufmärsche und Aufstände des „verelendenden Volkes“ vor. Diese blieben aber aus. Doch schon bald nach diesem Mißerfolg stand die Partei wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Der kommunistische Abgeordnete der Staatsduma, Albert Makaschow, rief seine Anhänger auf, die „Jidden“, die Rußland „zugrunde gerichtet haben, an den Galgen zu bringen“. Das war der Anfang der antisemitischen Hetze.
Die von Kommunisten dominierte Duma weigerte sich, Makaschows Äußerungen zu verurteilen. Die lauteste Protestreaktion kam von den sogenannten Oligarchen, den mächtigen Finanzmagnaten, und von radikalen Reformpolitikern, viele von ihnen jüdischer Abstammung. Sie antworteten auf die antisemitische Hetze mit der Forderung, die KP Rußlands solle verboten, die Duma aufgelöst werden. Natürlich waren sich der Bankier Boris Beresowski und der Ex-Premier Jegor Gajdar völlig im klaren, daß der schwach gewordene Präsident Jelzin zu solch einem radikalen Schritt gar nicht mehr fähig ist. Mit dem Verbot der KP hatten sie deswegen auch gar nicht gerechnet. Ihr wahres Ziel war auch nicht der Kampf gegen den Antisemitismus. Es war schlichtweg ein Machtkampf.
Monatelang gaben die von großen Konzernen kontrollierten Zeitungen und Fernsehsender die judenfeindliche Aufrufe wieder, um der Forderung nach der Auflösung der KP Nachdruck zu verleihen. So las man auf der ersten Seite der Nesawisimaja-Zeitung, die von Beresowski finanziert wird, wie sich dieser Finanzmagnat wortreich zum Opfer kommunistischer Judenverfolgung stilisierte. Zugleich aber fanden die Leser auf der dritten Seite eine Meldung darüber, daß Beresowski sich für 70 Millionen Dollar eine Insel gekauft hat.
Derartige propagandistischen Fehlschläge spielten den Antisemiten in die Hände. Ihre Wirkung auf die meisten Leser, die den reichen Juden Beresowski beneiden, war absehbar. Dies machte aber den demokratischen Politikern und Presseleuten paradoxerweise keine Sorgen. Bei der gesamten Kampagne ging es ihnen weder um die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus noch um Aufklärung. Jahrelang hatten sie die judenfeindlichen Äußerungen der Kommunisten und Nationalisten ignoriert. Jetzt aber kamen die antisemitischen Sprüche von General Makaschow den russischen Reformpolitikern und den Finanz- und Medienmagnaten wie gerufen. Um keinen Preis wollten die Reformer die Etablierung ihrer kommunistischen Gegner zulassen. Ihre Pressekampagne hatte im Endeffekt eine Allianz zwischen der KP und dem neuen russischen Machtzentrum verhindert, das um den Moskauer Oberbürgermeister Juri Luschkow entsteht.
So haben Radikalreformer die erste Schlacht gewonnen. Doch ihre Instrumentalisierung der Angriffe auf die Juden hat zu keiner Debatte über den Antisemitismus geführt, ja sie geradezu verhindert. Die Frage, warum die Judenfeindlichkeit in Rußland alle Reformen und Revolutionen überlebt hat, tauchte noch nicht einmal auf.
Alle Erneurer Rußlands, von Peter dem Großen bis Gorbatschow, hatten zumindest in einer Hinsicht keinen Erfolg. Die Gesellschaft schien immer eine starke Gegenreaktion zu entwickeln, einen inneren Widerstand, der die Transformation in eine zivile Gesellschaft verhindert. Die russische Intelligenzija, die diese Entwicklung eigentlich begrüßen müßte, klammert sich an die russische Tradition, ihre Kultur und Literatur – eine Tradition, die auf einem prämodernen Nationalismus fußt. Bis heute ist der traditionelle russische Patriotismus fest mit Fremden- und insbesondere mit dem Judenhaß gekoppelt. Eine latente Judenfeindlichkeit durchzieht – mit wenigen Ausnahmen – die gesamte russische Literatur von Puschkin bis Dostojewski.
Die Patrioten waren in Rußland stets Reformgegner. Und umgekehrt, die Gegner von Veränderungen stützten sich immer auf den großrussischen Patriotismus. Die heutigen Kommunisten sind nur die letzten in dieser langen Reihe der Reformgegner. Aber sie haben auch ihre eigene Tradition, die sie stützt. So machte Stalin die Bevorzugung des „großen russischen Volkes“ und die Diskriminierung anderer Sowjetvölker zum Grundstein seiner Innenpolitik. Offiziell bekannte sich die KPdSU zum „Proletarischen Internationalismus“ – doch auch nach Stalins Tod war der notorische Judenhaß in der Partei zumindest geduldet. Wer die „Jidden“ haßt, gilt auch heute als Patriot und ist unverdächtig, ein arroganter Intellektueller oder ein Reformer zu sein.
Die massive, aber ergebnislose Kampagne für das Verbot der KP hatte die antisemitische Stimmung der Kommunisten nur gefestigt. Als diese Kampagne ihren Höhepunkt erreichte, erklärte der kommunistische Vorsitzende des Sicherheitsausschusses der Staatsduma, Wiktor Iljuchin, die Juden seien an dem angeblichen Genozid des russischen Volkes während der Reform schuldig. Und wieder weigerte sich die kommunistische Mehrheitsfraktion in der Duma, ihr Mitglied zu verurteilen.
Die Kommunisten sind außerstande, sich vom Antisemitismus zu distanzieren. Dies nicht, wie man oft vermutet, aus populistischem Kalkül: 83 Prozent der Russen verurteilen den Antisemiten Makaschow. Vielmehr fühlen sich die Kommunisten geradezu verpflichtet, als russische Patrioten auch die traditionelle Judenfeindlichkeit zu reproduzieren. Dies steckt impliziert in der jüngsten Rechtfertigung Makaschows: „Ich bin gar kein Antisemit. Das heißt, ich bin genauso ein Antisemit, wie es Puschkin oder Gogol waren.“ Beide Dichter, deren Namen jedem russischen Patrioten heilig sind, waren im heutigen Sinne eindeutig judenfeindlich.
Die jüngste Welle des Antisemitismus hat neu definiert, was im politischen Diskurs zugelassen ist. Seitdem ist es möglich, ungestraft öffentlich zum Völkermord aufzurufen. Die Judenfeindlichkeit ist in Rußland wieder gesellschaftsfähig. Boris Schumatzky
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