„Die ersten werden zappelig“

Die Berliner Grünen bekommen die hohen Erwartungen zu spüren, die auf der rot-grünen Bundesregierung lasten. Umweltgruppen räumen zwar eine Schonfrist ein, doch Ungeduldige besetzten schon zweimal die Parteizentrale  ■ Von Dorothee Winden

Die Besetzer der grünen Parteizentrale in Kreuzberg erwiesen sich als äußerst zuvorkommend. Erst hatten sie den Termin der Besetzung auf einen Tag verlegt, der den Grünen besser paßte. Bevor die AktivistInnen des Anti-Atom- Plenums den Grünen den Strom abdrehten, rieten sie den MitarbeiterInnen über Megaphon, rasch noch ihre Texte auf dem Computer abzuspeichern. Schließlich wolle man keinen Schaden anrichten.

Daß die Besetzer die Telefonanlage in der vergangenen Woche für einen Tag lahmlegten und die Grünen damit von der Außenwelt abschnitten, war eher einer unvorhersehbaren technischen Komplikation geschuldet. Die Anlage mußte nach der unterbrochenen Stromzufuhr neu programmiert werden. Pech auch für die radikalen Atomkraftgegner, die ihre Presseerklärung nicht über das Fax der Grünen absetzen konnten. „Enteignet die Atomkonzerne!“ lautete ihre Empfehlung zum schnellen Atomausstieg – ein Vorschlag, der den Grünen allerdings nicht als realitätstauglich erschien.

Es war bereits die zweite Besetzung, seit die rot-grüne Bundesregierung im vergangenen Oktober ihre Arbeit aufgenommen hat. Im November hatte eine Flüchtlingsinitiative die Parteizentrale in der Oranienstraße aus Kritik an der Asylpolitik „besucht“. Für den Vorstandssprecher Andreas Schulze sind die Besetzungen wie ein Seismograph. Wenn Gruppen, die radikalere Positionen vertreten als die Grünen, schon nach drei Monaten „zappelig“ werden, dann könnten demnächst auch die gemäßigteren Initiativen, die den Grünen nahestehen, unruhig werden, schätzt er die Lage ein. „Die Erwartungen an die rot-grüne Regierung sind hoch“, so Schulze, „wenn die sich nicht erfüllen, wird rasch die Protesthaltung wach.“

Vom Erfolg oder Mißerfolg der rot-grünen Bundesregierung hängt für die Grünen und die SPD in Berlin viel ab. Das Ergebnis der Abgeordnetenhauswahl am 10. Oktober wird davon in hohem Maße beeinflußt werden. Bis zum Sommer muß Rot-Grün einige Erfolge vorweisen können, sonst könnte das die Grünen Wählerstimmen kosten, befürchtet Schulze. Für die Grünen ist das Spannungsfeld zwischen den eigenen Zielen und dem in der Koalition Machbaren größer als bei der SPD. Viel wird davon abhängen, wie die beiden grünen Herzensanliegen – der Atomausstieg und die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts – umgesetzt werden.

Noch räumen die Umweltinitiativen den Grünen eine Schonfrist über die ersten hundert Tage hinaus ein. „Wir sind ein bißchen ernüchtert“ sagt BUND-Sprecherin Carmen Schulze. „Aber wir kennen die Machtverhältnisse.“ Die Grünen seien der kleinere Koalitionspartner. Immerhin ginge vieles in die richtige Richtung. Von der Besetzung der Parteizentrale hält Carmen Schulze nichts: „Das war das falsche Ziel.“ Die Aufgabe des BUND sei jetzt, die Grünen in der Auseinandersetzung mit dem Koalitionspartner zu stärken. Druck müsse vor allem auf die SPD ausgeübt werden.

Auch Claudia Maiwald, die sich bei Greenpeace engagiert, ist „ein bißchen enttäuscht“, daß es noch kein konkretes Szenario für den Ausstieg aus der Atomkraft gibt. Doch die 36jährige Designerin staunt auch, wie viele Vorhaben die rot-grüne Regierung in der kurzen Zeit angeschoben habe. „Das positive Gefühl überwiegt, auch in meinem Umfeld“, sagt die grüne Stammwählerin. „Für mich ist das eine aufregende Zeit.“ Das Gefühl, daß jetzt Dinge in Angriff genommen werden, für die sie „ganz lange gearbeitet hat“, beschwingt sie nach wie vor. Das Ausbleiben schneller Erfolge werde ihr Wahlverhalten im Herbst nicht beeinflussen. Sie schätzt, daß sich die Enttäuschung frühestens in zwei, drei Jahren einstellen werde, falls die Bilanz der rot-grünen Bundesregierung hinter den Erwartungen zurückbleiben sollte.

Bislang motiviert der Regierungswechsel überdurchschnittlich viele grüne AnhängerInnen zum Eintritt in die Partei: Dank 500 Neuzugängen in den letzten Monaten sind die Grünen auf 3.600 Mitglieder angewachsen. Doch auch in den eigenen Reihen sind die Erwartungen hoch. Je nachdem, ob gerade die Ökosteuer oder der Atomausstieg Schlagzeilen macht, artikuliert sich auch der Unmut der grünen Mitglieder und WählerInnen in Anrufen und Briefen, die in der Parteizentrale eingehen.

Fünf Briefe pro Woche sind es im Schnitt, schätzt Parteisprecher Andreas Schulze. Sofern sie nicht unflätige Beschimpfungen enthalten, werden die Briefe von ihm höchstpersönlich beantwortet. „Wo ist euer soziales Gewissen geblieben?“ wollte ein Rentner wissen. Er sei ja bereit, wegen der Ökosteuer finanzielle Einbußen hinzunehmen, aber die Sonderregelung für die energieintensive Industrie sei ungerecht. Die Antworten sind zuweilen eine Gratwanderung. „Mit Beschwichtigungen würden wir uns keinen Gefallen tun“, so Schulze. Oft kann er Dinge geraderücken, zuweilen muß er aber auch einräumen, daß die Grünen dem Koalitionspartner nicht mehr abringen konnten.

Auch die grünen FachpolitikerInnen raufen sich gelegentlich die Haare angesichts der Bonner Beschlüsse. Ein Paradebeispiel ist die mißratene 630-Mark-Regelung. Als die bündnisgrüne Abgeordnete Sibyll Klotz den grünen Regierungsmitgliedern und der Fraktionsspitze ihre Kritik in einem Schreiben mitteilte, wanderte der erste Entwurf in den Papierkorb. „Man muß lernen, den richtigen Ton zu treffen“, sagt sie. Die Zeiten, in denen man aus der Opposition heraus Kritik üben konnte, sei vorbei. Nun gelte es, konstruktive Verbesserungsvorschläge überzeugend zu präsentieren.

Die neue Rolle ist für die Grünen noch gewöhnungsbedürftig. Vor der Protestdemonstration gegen das US-Bombardement Bagdads im vergangenen Dezember kamen die Grünen kurz ins Grübeln: „Fallen wir damit nicht Joschka in den Rücken?“ Rücksichtnahme auf den grünen Außenminister schien in diesem Fall nicht erforderlich. So riefen die Grünen zur Kundgebung vor der US-Botschaft auf, während ihr Außenminister die Regierungslinie mittrug, daß der Irak die Bombardierung durch die Behinderung der Unscom-Teams herausgefordert habe.

Als Bedrohung sehen die Grünen den Druck der sozialen Bewegungen keineswegs. Im Gegenteil. „Wir brauchen weiterhin den gesellschaftlichen Druck, um Veränderungen durchzusetzen“, sagt Sibyll Klotz. Sie hofft gar auf einen Aufwind der sozialen Bewegungen. „Die sollen sich bloß nicht zurücklehnen – in der Erwartung: Rot-Grün macht das schon.“