Der Wille zur Anständigkeit

Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war deutscher Sport ein vorwiegend männliches Training für kriegerische und wehrhafte Zwecke. Nach dem Ende des NS-Regimes übte sich das besiegte Deutschland in Anpassung und Bescheidenheit. Eine kleine Helden- als Sportgeschichte der Bundesrepublik – und Teil III der Serie „50 Jahre neues Deutschland“  ■ Von Harry Nutt

In den ersten Tagen nach Kriegsende suchte der Sportfunktionär Carl Diem noch einmal das Reichssportgelände in Berlin auf, wo er 1936 für die Organisation der Olympischen Spiele verantwortlich war. „Noch einmal kam der Augenblick der Erinnerung, wo ich von dem Luftdruck der Granate in den Korridor geworfen wurde... Und durch all diese Eindrücke hindurch immer wieder wie eine Fata Morgana die Erinnerung an die olympischen Stunden. Ich sah im Geiste die Fahnen der Völker wehen, ihre wohlgekleidete Jugend lachend und plaudernd umherstreifend... Vor meinem geistigen Auge schossen die Strahlen der Scheinwerfer zum Himmel und bildeten den Dom, während die ewigen Klänge Beethovens zu Schillers ,Lied an die Freude' zum Himmel drangen.“

Carl Diem, dem dieses ästhetische Gesamtkunstwerk zwischen den Trümmern in den Sinn kam, hatte selbst das sportliche Treiben der Deutschen vor und während des Krieges nach Kräften mit kriegerischen Emblemen aufgeladen. Nach 1945 mochte er nicht mehr offen zwischen dem „heiligen Spiel“ des Sports und dem „blutigen Ernst“ des Krieges eine tiefgehende „seelische Übereinstimmung“ feststellen, wie er es noch 1931 in einem Vortrag über Wehrhaftigkeit getan hatte.

In den frühen Tagen der Bundesrepublik unterliefen solche Äußerungen eher aus Redseligkeit. So hatte sich der Fußballehrer Sepp Herberger in einem Interview seiner einst guten Kontakte zur Reichswehr gerühmt; und nach dem Gewinn der Fußball-WM 1954 rutschte dem DFB-Vorsitzenden Peco Bauwens der Satz heraus: „Wenn aber andere auf dem Spielfeld herumturnen mit ihren Fahnen vor dem Spiel, dann geht es nicht an, daß unseren Leuten es verboten wird, unsere stolze deutsche Fahne zu führen. Das lassen wir uns nicht gefallen. Unsere Mannschaft hat ihnen die Quittung gegeben.“

In der Stunde des historischen Fußballsieges lauerten allerorten Spielverderber, denen man Klares und Entschiedenes zurufen wollte – aber was? Bauwens geschmähte Worte – Bundespräsident Theodor Heuss hatte ihn öffentlich dafür gerügt – strotzen nicht vor nationaler Erneuerung, sondern waren eher so dahingenörgelt. Der Satz „Wir sind wieder wer“ war kaum mehr als der Ausdruck einer narzißtischen Kränkung.

Bei aller Freude über die Gewißheit des Erreichten drückt sich in diesem Satz die Erfahrung der Identitätslosigkeit aus. Eben war man noch ein Niemand, weil man das Ende des Zweiten Weltkriegs als Niederlage wahrgenommen hatte. Der Fußballtitelgewinn war einer im buchstäblichen Sinn. Er verhalf unverhofft zu einer Anrede, die politisch weithin wahrgenommen wurde.

Wenn 1954 die eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik war, dann war sie eine Frühgeburt mit lautem Getöse. Man wollte sich nach dem Zusammenbruch, wie das Kriegsende gern umschrieben wurde, still und heimlich wieder aufrichten. Die WM-Teilnahme war denn auch zu keiner Sekunde als ein Unternehmen zur Aufrichtung des deutschen Selbstwertgefühls durch den sportlichen Triumph geplant gewesen. Es hatte sich eher zufällig so ergeben. Alles war ja darauf ausgerichtet, sich bloß nicht überheblich zu präsentieren. So war das 3:2 im Finale gegen Ungarn im Berner Wankdorfstadion das Produkt einer Überanpassung. Der Sieg, ein peinliches Versehen.

Von dieser psychosozialen Disposition zu ihrem Tun zeugen auch noch andere Bilder aus der Nachkriegsgeschichte des bundesdeutschen Sports.

Von zwei Wettkämpfern gestützt, sackt der Athlet nach dem 1.500-Meter-Lauf des Zehnkampfs bei den Olympischen Spielen 1964 in Tokio erschöpft zusammen. Willi Holdorf hat die Goldmedaille gewonnen, aber er kann die Begeisterung des Publikums nicht lächelnd auf der Ehrenrunde entgegennehmen. Wie ein Verwundeter wird er aus der Arena getragen. Stadionruhm, legten uns die Bilder nahe, geht Opferbereitschaft voraus. Der deutsche Heldenmensch gibt sich ganz der Verausgabung hin. Er sieht aus wie der Schmerzensmann Harald Norpoth, der aus einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager auf die Aschenbahn gelaufen zu sein schien. Abgemagert bis auf die Knochen, wurde Norpoth bei seinen Läufen häufig von Seitenstichen geplagt – ein Idol für die Jugend der frühen sechziger Jahre. In der Ikonographie des deutschen Nachkriegssports markieren Norpoth und Holdorf einen Heldentypus, der gewinnt, aber nicht mehr triumphieren kann.

Ein anderer Held der Nachkriegszeit ist der Fußballtorwart Bert Trautmann, der trotz eines angebrochenen Nackenwirbels sein Spiel zu Ende brachte. Soviel Einsatz mußte sein in diesen Tagen.

Nicht alle Sporthelden jener Jahre waren so ausgemergelt wie Norpoth. Armin Hary, der 1960 in Rom die Goldmedaille im 100-m-Sprint gewonnen hatte, sagt man nach, ein ganz lustiger Vogel gewesen zu sein. Neben der Bereitschaft, sich völlig zu verausgaben, kam bei ihm Witz und Intelligenz mit ins Spiel. Hary experimentierte mit selbstgebastelten Startblöcken, weshalb man seine Weltrekorde wiederholt anzweifelte. Hary war ein Individualist mit dem ausgeprägten Talent zur Selbstinszenierung. Meine Erinnerung bringt ihn, nicht zuletzt wegen des ähnlichen Vornamens, mit dem kürzlich gestorbenen Sensationsdarsteller Arnim Dahl in Verbindung, der sich bei seinen Kunststücken zahlreiche Knochenbrüche einhandelte. Dahl war ebenfalls ein komischer Kauz; seine Turnübungen auf fahrenden Zügen waren eine seltsame Anverwandlung an die Soldaten auf dem Transport an die Front.

Es gibt in der Nachkriegszeit keinen gesellschaftlichen Bereich, der das Abarbeiten von Kriegserlebnissen so vielfältig zuließ wie der Sport. Der „Zusammenbruch“ konnte ganz beiläufig in die sportliche Niederlage umgearbeitet werden. Neben den Siegen und Niederlagen soldatischer Helden, die zugleich Triumphverzicht leisten oder kollektive Schuld in Form von Knochenbrüchen abgelten, gab es die Möglichkeit zum nochmaligem Zusammenwachsen in der Truppe. Das maschinenhafte Funktionieren einer Einheit, das Verschmelzen von acht Männern zu einem einzigen Körper, verdichtet sich im Sieg des Ruderachters 1960 bei den Olympischen Spielen in Rom. Die Namen der Sportler sind nicht bis ins kollektive Gedächtnis eingegangen, in Sportchroniken sind sie nicht verzeichnet. Aber in der Ruhmeshalle deutscher Sportmythen hat der Deutschlandachter seinen festen Platz.

Verausgabte Körper, berstende Knochen, das Glück in der Gruppe – im Sport der Nachkriegsjahre kamen Frauen nur am Rande vor. Mit der Verarbeitung von Fronterlebnissen hatten sie wenig zu schaffen. Ihre Stunde im Sport schlug erst mit der gesellschaftlichen Durchsetzung der Individualisierung und der sexuellen Revolution. „Der Einzug der Frauen“, schreibt der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider, „in die Szene des visuellen Heldentums hat die Erotik umgewälzt. Das Neue in unserer Epoche ist die Ausstellung des weiblichen Körpers im Zeichen von sportlichen Risiken.“

Die Emanzipation des Frauensports war begleitet von leidenschaftlichen Diskussionen darüber, was der weibliche Körper auszuhalten imstande sei. Zur Emanzipation des Frauensports bedurfte es solcher Athletinnen wie der Diskuswerferin Liesel Westermann, 1968 Silbermedaillengewinnerin. Kräftig, schnell und geschickt im Werferring, reüssierte sie in einer Sportart, in der sonst Körper dominierten, die „leibhaftig einem Fünfjahresplan der alten sowjetischen Schwerindustrie entstiegen zu sein schienen“ (Schneider). Und ihre Beatlesfrisur verwies darauf, daß es auch im deutschen Sport ein '68 gegeben haben mußte.

Deutlicher noch brachte dies Heide Rosendahl zum Ausdruck, die Yoko Ono der Leichtathletik, 1972 bei den Olympischen Spielen in München. Mit Nickelbrille und Strähnchenfrisur verkörperte sie die moderne Athletin schlechthin. Unvergessen ist ihre Anlaufzeremonie beim Weitsprung, ein öffentlicher Akt der Selbsterfahrung, in der sie mit Grashalmen die Windstärke sondierte, ehe sie zum Anlauf ansetzte.

Rosendahl war es übrigens auch, die in einem der emphatischsten Läufe der Leichtathletikgeschichte dem westdeutschen Unterlegenheitsgefühl das Mütchen zu kühlen vermochte. Im Vergleich der Systeme hatte die Sportnation DDR gegen die verwestlichte Bundesrepublik – Rosendahl heiratete später den US-Basketballer John Ecker – längst ihre Überlegenheit behauptet.

Der BRD blieben der Fußball und die schöneren Frauen. In der 4x100-Meter-Staffel von 1972 kam zu Schönheit und Eloquenz auch noch Wille hinzu. Obwohl die Einzelläuferinnen der DDR allesamt schneller waren als die Bundesmädels, setzte sich Heide Rosendahl als Schlußläuferin am Ende doch gegen die stämmige Renate Stecher durch.

Auf tragische Weise stehen die Münchner Spiele im Zentrum der Sportgeschichte der BRD. Das „Modell Deutschland“ wurde durch den Überfall terroristischer Palästinenser auf die israelischen Olympiagäste auf ihre kriegerischen Anfänge zurückverwiesen. Und jene Generation, die angetreten war, das Schweigen der Kriegsteilnehmer zur Sprache zu zwingen, verstrickte sich in Akten stummer Gewaltanschläge.

Anschaulich brachte seinerzeit das Zeitmagazin das Aufeinanderprallen von naivem Sporttreiben und historischer Regression zum Ausdruck. Das Bild der 17jährigen Hochspringerin Ulrike Meyfarth konfrontierte man mit dem der Pfarrerstochter und Terroristin Gudrun Ensslin. Bildzeile: „Die Jugend von heute gibt es nicht.“

Der Sportler von heute hat sich von kriegerischen Emblematierungen weitgehend emanzipiert. Er ist zum Selbstunternehmer seiner Leistungsfähigkeit geworden. Sportliche Helden wie Steffi Graf beschäftigt nach getaner Arbeit vor allem die Steuererklärung. Ihre stählernen Körper lassen sie sich von Fotografen, die die Ästhetik Leni Riefenstahls verfeinert haben, noch immer für allerlei Zwecke ablichten.

Und wenn dies nicht der eigenen Attraktion am Werbemarkt dient, dann höchstens edlen Zwecken. Die Männerbündnisse unserer Tage sind interdisziplinär, zivil allesamt. Kürzlich präsentierte der Tennisspieler Boris Becker mit Marius Müller-Westernhagen und Thomas Gottschalk sein herausgeputztes Antlitz im Auftrag der Bundesregierung für ein neues Staatsbürgerschaftsrecht.

Harry Nutt, 39, gebürtiger Westfale, leitet seit 1996 das Kulturressort der taz. Von ihm erschien zum Thema Als der Ball noch rund war. Sepp Herberger, ein Fußballeben, Campus-Verlag, Frankfurt 1997, 220 S., 39,80 Mark