Dunkler, heiliger Hain

Das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Wald ist ohne Beispiel. Sie haben ihn besungen und bedichtet, gepäppelt und gehegt. Und schließlich mit Bürgerinitiativen gegen den sauren Regen verteidigt. Bei soviel Liebe zur Baumgruppe ist es kein Wunder, daß aus den Deutschen ein Volk von eifrigen Mülltrennern wurde  ■ Von Uta Andresen

„Der Deutsche ist eigentlich nur bei zwei Gelegenheiten lustig: wenn er viel Alkohol genossen hat und wenn er im Walde ist, dann prägt sich die Fröhlichkeit durch Singen aus.“ Sprecher der SPD-Fraktion im Landtag Preußens bei der Debatte um das Gesetz zur Erhaltung des Baumbestandes (1922)

Kein Heimatfilm ohne Romanze unter Buchen, keine Treibjagd ohne Tannenzweig auf der Wunde des erlegten Wildes, kein Gedenktag ohne Eichenkranz, kein Sonntag ohne Waldspaziergang. Der Wald hat sich fest in der deutschen Befindlichkeit verwurzelt. Und erst das Waldsterben! Nicht Fischsterben und dicke Luft haben die Deutschen zu eifrigen Umweltschützern gemacht, sondern sieche Nadelhölzer.

Drei Ereignisse prägen die jüngere deutsche Umweltschutzbewegung: der saure Regen, Tschernobyl und das Ozonloch. Wobei letztere ja weit weg sind. Der saure Regen aber ging auf jeden nieder. Im eigenen Vorgarten! Zunächst waren es die Tannen im Schwarzwald und auf den Gebirgen, deren Nadeln braun wurden und abfielen. Förster schüttelten bedenklich die Köpfe, Biologen wanderten mit aufgerissenen Augen durch den maladen Wald. Wie konnte das passieren, fragte sich die verzweifelte Nation. 1979 dann stand es fest: Die Industrie war's. Deren Emissionen verbandelten sich mit den Niederschlägen und ließen den Boden versauern – in dem PH-Bereich wollte kein Baum mehr Wurzeln schlagen.

„Der Wald stirbt“, titelte der Spiegel, „Der Todeskampf der Bäume“ der Stern, und die Deutschen wollten es gern glauben. Bereits bestehende Naturschutzverbände bekamen Zulauf, Bürgerinitiativen, Umweltvereine entstanden und nannten sich – wie konnte es anders sein – „Robin Wood“ oder gar „Rettet den Regenwald“ für diejenigen, die einen internationalen Impetus verspürten. Für den Wald marschieren hieß für Zukunft und Vergangenheit zugleich marschieren. Kommen wir nicht alle irgendwie aus dem Wald?

Den Untergang der Wälder vor Augen, wurde eilends ein Schätzverfahren entwickelt, anhand dessen „objektiv“ die Zu- oder Abnahme von Walderkrankungen gemessen werden sollte: Der Patient stand unter Dauerbeobachtung. Grenzwerte für Emissionen wurden beschlossen, Rauchgasentschwefelungsanlagen zur Pflicht erhoben. Endlich passierte etwas. Und was noch viel besser war: Jeder konnte etwas tun für den deutschen Wald.

Und man tat es. Man kaufte sich ein neues Auto, natürlich des Katalysators wegen, tankte bleifrei, sammelte stapelweise Altpapier, trennte Plastik und Konserven, kritzelte fortan auf chlorfreiem gräulichem Recyclingpapier, betätigte die Spülung in großzügigen Intervallen. Die revolutionäre Variante bot der Straßengraben an der Startbahn West – unser Schutz dem Frankfurter Stadtwald!

Heute, knapp zwanzig Jahre später, steht der deutsche Wald noch immer. Aus Waldsterben wurde Waldschaden, wurde Waldzustand. Doch wie es mit hysterischen Zuständen so ist: Sie haben ihr Gutes. Wer weiß, wie es mit dem Wald aussehen würde, wenn nicht der kränkelnde Schwarzwald daran gemahnt hätte, daß bald Schluß sein könnte mit O Tannenbaum. Doch das wilde Aufbegehren der achtziger Jahre ist einem müden Mitgefühl gewichen. Heute geht es ja auch um so abstrakte Dinge wie Treibhauseffekt. Was wird das schon sein? Und der Wald ist immer noch zu zwanzig Prozent geschädigt, das ist nichts Neues. Diffuse und chronische Leiden lohnen nicht die große Pose.

Doch wehe, irgendwelche grünen Spinner wollen den Bayerischen Wald dem Borkenkäfer überlassen, da sei der Förster vor! Wie sieht das denn aus, so ein kahlgefressener Busch? Waldschutz ist eben nicht Umweltschutz. Satt, grün, dicht soll ein deutscher Wald aussehen – eine geeignete Bühne für Tannhäuser und Teutonenschlacht abgeben.

Der Germane und sein Busch – was als Küchenverhältnis vor ein paar tausend Jahren begann, gleicht nunmehr einer Heiligenverehrung. Das Objekt der Begierde hat sich, je mehr sich der Mensch von ihm entfernte, zu einer unerreichbaren, schützenswerten Ikone gewandelt: Womit man sich nicht täglich herumschlagen muß, das hebt man aufs Podest.

Vor etwa zweihundert Jahren begann die Karriere des Mythos Wald. Schon lange nicht mehr zogen die Germanen schlotternd durch den Wald, hungrig ihren Rinderherden folgend. Städte gaben Schutz, Ackerbau machte Nomadentum überflüssig. Der Wald als Nahrungsquelle hatte ausgedient, nun reüssierte er als Kulisse.

Interessanterweise war es ein Römer, der bei der Mythenbildung Geburtshilfe leistete. In der Renaissance wurde die „Germania“ des Geschichtsschreibers Tacitus wiederentdeckt. Was war man stolz, als dort die Rede von den silvae horridae, von den weiten und furchterregenden Wäldern Germaniens war. Sogleich bezog man das Zitat auf den Deutschen, den es zur Zeit des Tacitus zwar noch nicht gab, sondern nur unterschiedliche Stämme, aber macht ja nichts. Montesquieu etwa glaubte, daß in den Wäldern Mitteleuropas zur Zeit der Römer freie Menschen lebten. Das interessierte zwar die Franzosen nur mäßig, fand dafür aber in Deutschland um so größeren Anklang.

Der Wald diente als Projektionsfläche der Vorstellungen davon, wie man sein wollte: wild, frei, beeindruckend, stolz, aufrecht, urwüchsig. Wald war bald allerorten. Friedrich Gottlieb Klopstock dichtete die Ode „Der Hügel, und der Hain“. Der Göttinger Hainbund wurde gegründet, eine Art früher PEN-Club. Die Brüder Grimm sammelten und veröffentlichten Märchen, die vor Wald nur so strotzten. Zugleich brachten die Märchenonkel eine Zeitschrift heraus über das frühe Germanien. Der Titel: „Altdeutsche Wälder“. Wald war in.

Schade nur, daß um 1750 längst Schluß war mit den wilden Wäldern Germaniens. Die Erzschmelzen hatten mit ihrem enormen Holzverbrauch den Kahlschlag weiter Landstriche verursacht. Realität und Wunschbild ließen sich schon längst nicht mehr zur Deckung bringen. Dennoch: Die Landschaft sollte nicht schlechter dastehen, als in dem Geschichtsbuch dieses Römers beschrieben. Flugs orderten die Fürsten fleißiges Aufforsten. Daß das nur wenig mit den urwüchsigen Wäldern à la Tacitus zu tun hatte, interessierte nicht.

Klopstock, der sich bereits Jahre zuvor um den Mythos Wald verdient gemacht hatte, schrieb 1774: „Die Eiche war bei unseren Vorfahren mehr als etwas Symbolisches; sie war ein geheiligter Baum, unter dessen Schatten die Götter am liebsten ausruhten.“ Traf also der Mensch des 18.Jahrhunderts auf eine knorrige Eiche, verharrte er und gedachte seiner mystischen Herkunft. Indem man den Wald verehrte, betete man das Bild an, das man von sich selbst entworfen hatte: eine Heiligenverehrung, die das eigene Selbstbewußtsein massierte, wie angenehm.

Indes, die Eichen, die da zur Kontemplation einluden, waren keine tausendjährigen Thorseichen, sondern schnöde Hudeeichen, die durch die Beweidung, die Hude, entstanden und allerhöchstens ein paar hundert Jahre alt waren. Steht heute irgendwo eine Gruppe mächtiger Eichen, stammt sie meist aus der waldverliebten Zeit des 18.Jahrhunderts, denn es sollten fortan möglichst viele dieser „urdeutschen“ Bäume sprießen.

Zur Perfektion der Waldverehrung brachte es das 19.Jahrhundert. Die Eiche erhielt ihren Ruf als Freiheitsbaum, als Sinnbild der deutschen Nation und der Auflehnung gegen die französische Vorherrschaft. Hermann der Cherusker, eigentlich Arminius, der im Jahre 9 nach Christus die Römer geschlagen hatte, erlebte ein nie geahntes Comeback. 1808 schrieb Heinrich von Kleist „Die Hermannsschlacht“, in der der stolze Waldgermane im Schatten einer Wodanseiche sterben will. Die Botschaft war eindeutig: Stärke und Freiheitswille ist es, was einen Deutschen, gestählt durch das Leben im Wald, auszeichnet. Von da an tauchte Eichenlaub stets auf, wenn es historisch wurde: auf dem Eisernen Kreuz der Preußen, auf dem Wartburger und dem Hambacher Fest und bei der Revolution von 1848. Ob Konservativer, ob Demokrat – alle hatten's mit der deutschen Eiche. Die zur Reichsgründung 1871 gepflanzten Bismarckeichen stehen heute noch.

Dabei übten sich die Deutschen im 19.Jahrhundert schon eifrig in Schizophrenie. Der Zustand des Waldes, der da so mächtig verehrt wurde, war schlecht. Holz war Brennstoff Nummer eins und entsprechend wurde Raubbau betrieben. Was den Mythos jedoch stärkte: Man hatte immer noch mehr Wald als alle anderen. Und da kam natürlich auch der Weihnachtsmann „von draußen vom Walde“, quasi von nebenan aus dem frisch gepflanzten Fichtenwald – und nicht aus nordischen Gefilden wie bei den Briten, die ihre Insel schon lange zu einer Weidelandschaft gerodet hatten.

1913 traf sich die Wandervogelbewegung auf dem Hohen Meißner bei Kassel. Es galt die Überwindung der Zivilisation. Wandern, Zelten, Volkstanz, zurück zur Natur! Man sah sich in der Tradition der revolutionären Sit-ins des 19.Jahrhunderts und hielt programmatische Reden. Der Philosoph Ludwig Klages beklagte die Waldarmut in Deutschland und überhaupt den Untergang der Natur im Zeitalter der Industrie.

Von besonderer Bewußtseinsspaltung war das Verhältnis der Nationalsozialisten zu ihrem deutschen Wald geprägt. Auf der einen Seite kultische Verehrung – an die Goldmedaillengewinner der Olympiade von 1936 wurden Töpfe mit Eichensprossen verteilt –, auf der anderen Seite kühler Kahlschlag, schließlich wollte man autark sein, ausländisches Holz kam nicht in deutsche Öfen. Bereits 1934 wurde mehr Holz geschlagen als nachwachsen konnte.

Die Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg nahm man hin. Demontage der Industrie – na gut. Entnazifizierung – wenn's sein muß. Aber deutscher Wald den Alliierten? Widerstand regte sich, als „fremde Kolonnen“ anfingen, festmeterweise zu holzen. Unser Wald unter „Reparationshieb“? Niemals! 1947 organisierten sich wackere Förster und Bürger zur Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, galt es doch, Frankfurt seinen Taunus und Lüdenscheid sein Sauerland zu erhalten.

Wie innig Wald und Naturschutz verbunden sind, zeigt auch der Begriff Nachhaltigkeit. Das Popwort der deutschen Ökologiebewegung war ursprünglich ein rein ökonomischer Begriff. Forstmann Hannß Carl von Carlowitz, der im 18.Jahrhundert für Aufforstung sorgte, prägte den Begriff als Prinzip der ausgewogenen Waldwirtschaft: Nur so viel abholzen wie nachwächst, sonst bleibt nichts zum Heizen.

Wald ist Bambi ist Natur. Daß der Wald in Deutschland keinesfalls unberührt ist, sondern seit Jahrtausenden beweidet, gerodet und wieder aufgeforstet und zudem nur noch dreißig Prozent der Landschaft prägt, spielte und spielt keine Rolle. Wald gilt heute noch als Natur, als Rückzugsgebiet aus der so gefürchteten Zivilisation. Vehement liegt der Chor aus Jägern, Wanderern und Naturschützern dem Forstmann in den Ohren, daß ein schöner Wald ein Mischwald ist und daß er, der Förster, doch bitte schön dafür sorgen soll, daß das allerorten auch so gedeihen möge. Mythen wollen gepflegt sein.

Uta Andresen, 28, ist Redakteurin im taz.mag. Schwerpunkte: Natur und Gesundheit, Geheimbünde und Sekten

Literatur: Hansjörg Küster, Geschichte des Waldes – von der Urzeit bis zur Gegenwart, C.H.Beck, München 1998, 267 Seiten, 58 DM