China: Krise stoppt Atom

Reformpremier Zhu will den Ausbau der Nuklearindustrie überdenken. Stromverbrauch im Reich steigt langsam  ■ Aus Peking Georg Blume

Die Reformen in China gehen weiter – trotz Wachstumsrückgang und zunehmenden sozialen Protesten. Jüngstes Beispiel ist die Atomindustrie: Sie soll besser kontrolliert werden, die Regierung will kommerzielle Kriterien an die Branche anlegen.

Laut Pekinger Presseberichten von gestern plant die Regierung die Auflösung der bestehenden „Nationalen Chinesischen Nukleargesellschaft“ (bekannt unter der englischen Abkürzung CNNC) in zwei unabhängige Unternehmen und einen neustrukturierten Verwaltungsapparat. Den Reformern zufolge soll die bisher für den Bau von Atomkraftwerken zuständige CNNC in Zukunft als kommerzielles Bauunternehmen weitergeführt werden. Außerdem sollen die administrativen Funktionen der CNNC in die seit April 1998 bestehende Staatskommission für Forschung, Technologie und Verteidigungsindustrien eingegliedert werden. Die Kernbereiche der Atomindustrie, vom Uranabbau über die Herstellung atomarer Brennelemente und Sprengköpfe bis zur Atommüllendlagerung, würden sich dann in einer abgespeckten CNNC unter stärkerer Effizienzkontrolle von Seiten der Regierung befinden.

Folgt man CNNC-Direktor Huang Guojin, dem Architekt der Reformen, dann ist von der „tiefsten Reform“ im Atomstaat China seit Zündung der ersten chinesischen Atombombe in der Wüste Gobi im Jahr 1964 die Rede. Zweck der Maßnahme sei es, das Monopol der CNNC abzuschaffen und in der Branche marktwirtschaftliche Mechanismen einzuführen. Nach den Aussagen Huangs gegenüber der in englischer Sprache erscheinenden China Daily entsprächen die Reformen im Atomsektor denen in der Luftfahrt-, Weltraum- und Schiffsindustrie.

Insbesondere der zivilen Atomwirtschaft stehen harte Zeiten bevor. „Der gegenwärtig schwache Anstieg des Elektrizitätsverbrauchs wird die Entwicklung der Atomenergie voraussichtlich verlangsamen“, sagte CNNC-Sprecher Zhang Weixing.

Geblendet vom Wirtschaftswachstum vergangener Jahre war die chinesische Regierung bisher vom raschen Anstieg des Elektrizitätsbedarfs ausgegangen und hatte die Verzehnfachung der AKW- Leistung von derzeit 2.100 Megawatt aus drei AKW auf 20.000 Megawatt im Jahr 2010 prognostiziert.

Da China derzeit nur über drei laufende Atomreaktoren verfügt, bot das Riesenreich für die unterbeschäftigten westlichen Reaktorbauer bislang eine wichtige strategische Perspektive für den Erhalt ihrer Industrie. In diesem Sinne hatten Peking und Washington 1997 eine Übereinkunft über den Export amerikanischer Atomkrafttechnologie nach China erzielt, die dem kränkelnden US- amerikanischen Reaktorbauer Westinghouse neues Leben einhauchen sollte. Doch damals hatte die Asien-Krise gerade begonnen.

Seither haben sich Pekings Prioritäten unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise geändert. Sparen und Effizienz sind unter dem seit elf Monaten regierenden Reformpremier Zhu Rongji oberstes Gebot der Wirtschaftspolitik. Die Reformer haben nun erkannt, daß sich die Atomenergie weder zum Sparen noch zur effizienten Elektrizitätsherstellung eignet. Ein Beispiel dafür ist auch die Beschäftigungslage: Derzeit unterhält die CNNC 200.000 Angestellte. Zwar wurden bislang noch keine Zahlen genannt, doch ist klar, daß durch die Reformmaßnahmen ein erheblicher Teil der Beschäftigten seinen Job verliert. Das entspricht Zhus erklärtem Ziel, die Hälfte aller Regierungsangestellten zu entlassen.

Anders als etwa bei den alten Branchen Luftfahrt oder Schiffsbau dürfte die Umsetzung der neuen Sparziele im Atomsektor leichter fallen. Denn es geht vor allem darum, keine weiteren Kraftwerke zu bauen. Allerdings hat die Atomreform noch nicht den Segen den Pekinger Politbüros. Dort könnte Prestige wie so oft mehr bedeuten als Effizienz.