Heimtürkisch

■ Johann Ali von Goethe, mein deutscher Kollege, und wo Goethe wirklich herkommt

Mein Kollege war sichtlich erbost. Sonst grüßt er mich auf dem Flur nur beim Vorbeigehen, freundlich, aber etwas distanziert. Jetzt kam er direkt, beinahe bedrohlich auf mich zu. Ohne Grußformel überrumpelte er mich: „Haben Sie das Buch ,Du Deutsch‘ von..., dem komischen Autor...?“ „Von Engelmann?“ „Ja, eben, von Engelmann! Haben Sie es?“ „Sicher habe ich es. Wollen Sie es lesen?“

Meinen Kollegen kenne ich zwar nicht sehr gut, aber immerhin gut genug, um mich darüber zu wundern, daß er sich für ein solches Buch interessierte. Als wollte er jeden Verdacht der Sympathie für jenen höchst verdächtigen Autor weit von sich weisen, schränkte er fast beleidigt das Feld und den wirklichen Grund seines Interesses vorsorglich ein:

„Nein! Lesen will ich es nicht. Nur etwas überprüfen möchte ich.“ „Was denn?“ „Ach, dieser komische Autor, dieser Herr...“ „...Engelmann!“ „Meinetwegen! Dieser Herr Engelmann soll in diesem Buch geschrieben haben, daß Goethe von Türken abstammt. Haben Sie es schon selbst gelesen?“ „Nein, gelesen habe ich es noch nicht, aber das Buch habe ich, wie gesagt, und ich kann es Ihnen leihen.“ „Das wäre gut. Denn, so was! Goethe und türkische Vorfahren!“ „Denkbar ist alles“, sage ich schmunzelnd.

Aber mein Kollege sah mein Schmunzeln nicht mehr, und meine Worte hörte er wahrscheinlich auch nicht, denn er war davongelaufen, mit den Armen fuchtelnd, in empörtem Ton vor sich hin brummend.

„Goethe und Türke! Na, so was!“

Am Abend zu Hause holte ich das Buch aus dem Regal. Leicht fand ich die Stelle. Tatsächlich schreibt Engelmann, daß der große Goethe, der Tiefsinnigste aller Tiefsinnigen, der Anmutigste aller Anmutigen, der Deutscheste aller Deutschen einen leibhaftigen Türken zu seinen Vorfahren zählt, einen gewissen Soltan, einen türkischen Oberst, der 1305 ausgerechnet in Württemberg getauft worden sein soll. Und bei dieser völkischen Blasphemie beruft sich dieser respektlose Engelmann auf Untersuchungen eines Niels Hansen, dessen Forschungsergebnisse in Band VIII (1927/28) des Jahrbuchs der Sammlung Kippenberg veröffentlicht worden sind. Geheißen hatte der türkische Offizier – wenn wir es wagen, jenen Untersuchungen Glauben zu schenken – Sadok Seli Zoltan, und bei der Taufe hatte er den niedlichen Namen Johann angenommen. (Seiner türkischen Verschlagenheit ist es zuzutrauen, daß er den Namen Johann nur deswegen annahm, um der Legende seiner Verwandtschaft mit dem späteren Johann Wolfgang Argumente zu liefern.) Von da ab hieß unser türkischer Oberst Johann Soldan. Mit der Dohlerin Rebekka machte er drei große Söhne, deren Namen nicht, aber gar nicht in Richtung Türkei weisen. Die drei großen Söhne hießen nämlich Eberhard, Christian und Melchior. Vom dritten der drei großen Söhne jenes Türken Johann, vom besagten Melchior nämlich, soll nun der Deutscheste aller Deutschen abstammen.

Am nächsten Morgen legte ich meinem Kollegen das Buch ins Fach. Wochenlang hörte ich nichts von meinem einst so erbosten Kollegen. Eines Morgens fand ich das Buch in meinem Fach vor. Ohne Kommentar. Von mir irgendwann gefragt, ob er die gesuchte Stelle im Buch des Herrn Engelmann gefunden hätte, antwortete mein Kollege bejahend, aber völlig unbeteiligt. Ich mußte nachhaken. Halb enttäuscht, halb erleichtert murmelte er bloß vor sich hin:

„Es ist ganz schön weit hergeholt. Im 14. Jahrhundert...“

Zunächst begriff ich die Reaktion meines Kollegen nicht. Aber irgendwann leuchtete es mir ein: Der türkische Offizier Sadok Seli Zoltan stellte keine chromosomische Bedrohung mehr für die Deutschlichkeit des Deutschesten aller Deutschen dar, welcher bekannterweise erst im Jahre 1749 in Frankfurt geboren wurde, dessen Chromosomen also fast 450 Jahre zur Verfügung gehabt hatten, um sich von türkischen Zusätzen frei zu erben.

Meinen deutschen Kollegen störte es also nicht, daß der türkische Offizier Sadok Seli Zoltan sich im Jahre 1305 im Württembergischen taufen ließ und mit der schwäbischen Rebekka drei Söhne zeugte, um sich durch den dritten, durch den Melchior nämlich, in die rein deutsche Ahnenschaft des Geheimrats Johann Wolfgang von Goethe einzuschleichen – heimtürkisch.

Meinen deutschen Kollegen störte es nicht. Stören tut es mich auch nicht. Aber, bei aller Würdigung der Integrationspolitik unserer neuen Bundesregierung, wäre ich den Einbürgerungsbehörden sehr dankbar, wenn sie bei der Einbürgerung von Türken äußerst behutsam vorgehen würden, denn... ein zweiter Goethe wäre in der Tat kaum zu verkraften. Guillermoa Aparicio