Multioptionsklinge, gegen sich selbst gerichtet

Mit einer Inszenierung von Shakespeares „Richard II.“ startete Frank Castorf im Prater der Berliner Volksbühne ein vielteiliges kapitalismuskritisches „Rosenkriege“-Projekt. Und treibt ein eigenes neues Projekt voran: das Theater des Verschwindens  ■ Von Petra Kohse

Eines der vielen Projekte, an denen die Berliner Volksbühne arbeitet, ist die Dekonstruktion des Auratischen im Theater. Die Augenblickskunst, die anderswo Erhabenheit beansprucht, kommt hier als Echtzeitereignis daher, das sich zum Alltag voll kompatibel erweist. Nicht nur werden gerade klassische Texte auf der Bühne grundsätzlich auf Augenhöhe behandelt, sondern die Schauspieler scheinen ihr Verhältnis zu ihnen auch nach Tageslaune gestalten zu können. Kommt, wie ihr seid.

Dabei sind die Theateraufführungen selbst nur ein Freizeit- und Bildungsangebot unter vielen im Hause. Konzerte auf der großen Bühne sind keine Seltenheit, und Tangonächte, Jandl für alle, Schlingensief-Happenings (inzwischen hat er sich im Foyer des Theaters ein Büro eingerichtet und will dort auch bald sein eigenes Theater eröffnen) sind auch denen willkommen, die die „Drei Schwestern“ für einen Teil der Geschwister Pfister halten.

Das alles ist nicht selbstverständlich, und das alles saß am Samstag abend mit auf der Holzbank, von der aus man in der Spielstätte Prater die Premiere von Shakespeares „Richard II.“ unter der Regie von Volksbühnenchef Frank Castorf betrachten konnte. Was hieß: den Auftakt zu einem konzeptionell durchgeformten „Rosenkriege“-Projekt, das aber bei Licht besehen kaum mehr als ein verwirrendes Hauen, Stechen, Brüllen und Umfallen zu original übersetztem (Fried), aber bis zur Unverständlichkeit eingestrichenem Shakespeare-Text war. In sechs Produktionen sollen in der Volksbühne bis zum Jahresende (Jahrtausendende!) von Castorf, Kresnik und anderen in einem eigens erbauten „New Globe“- Theaterbau die Kämpfe zwischen den Häusern York und Lancaster („Richard II.“, „Heinrich IV.“, Heinrich V.“, „Heinrich VI.“, „Richard III.“) als Multioptionsklinge gegen die Theatermüdigkeit und mehr noch die Politik-im-Theater- Müdigkeit vorgeführt werden.

Die Rosenkriege, die den Zerfall des englischen Reiches und damit das Ende des Mittelalters auf der Insel beschreiben, werden im Programmheft mit Marx als Umfeld des „ökonomischen Sündenfalles“ der „ursprünglichen Akkumulation“ verortet. Als Berichte aus einer Zeit also, in der ab Ende des 14. Jahrhunderts dezentral Reichtum angesammelt wurde und die ganze Geschichte mit dem Kapitalismus begann. Als politisch gefärbte Berichte aber auch, denn Shakespeare schrieb nicht als Chronist, sondern zwei Jahrhunderte später, an Königin Elisabeth gerichtet und mit der offenbaren Absicht, gegenwärtige Probleme mit den Grauslichkeiten der Vergangenheit zuzudecken.

Daß Shakespeare in politisch durchscheinender Weise gezielt gelogen habe, nutzt die Volksbühnendramaturgie jetzt, um die Klassiker ihrem dünner werdenden Dossier Kapitalismuskritik zuzufüttern und sich Purismus verordnend („alles reiner Shakespeare“) gleichzeitig ästhetisch einen neuen Kick zu holen. Das ist die doppelte Retrovolte im Zeitalter beliebiger Kombinierbarkeit.

Passend dazu – und das Thema auf seine Weise in die Gegenwart weitertreibend –, hat der Bühnenbildner Bert Neumann, inspiriert von Shakespeares Globe-Theatre, einen achteckigen Theaterturm aus Holz ersonnen, in dem die Zuschauer in zwei Klassen und in zwei Stockwerken rundum sitzen und das Geschehen auf der nur acht mal zwölf Meter großen Grundfläche aus Fenstern beobachten können – aber nicht müssen, denn zuziehbare Vorhänge verleiten zur Meinungsbildung.

Oben also auf Holzbänken jeweils zu dritt oder auf Polsterstühlen zu zweit das Publikum, unten die Schauspieler, die sich nach allen Seiten drehen und wenden, um gesehen, und sich den Hals verrenken, um gehört zu werden. Der Kunde ist König, heißt hier die Devise – als jüngster Wurmfortsatz der Geschichte vom Kapital trägt das Ensemble seine Haut zu Markte. Und den vom Intendanten inszenierten Klassiker an die Peripherie der Nebenspielstätte, während das Haupthaus an diesem Wochenende für das philosophisch inspirierte („Mille Plateaux“ von Gilles Deleuze und Felix Guattari) Spektakel „1000 Plateaus“ freigeräumt ist, wo sich Diskussionsforen über Europa neben einem Casting für Pornofilme ereignen, Ausdruckstänzer Solovorträge umgarnen, Deleuze- Videos gezeigt werden, Matthieu Carrière die Massen zum mitmachen auffordert und, wie man hört, auch eine Sekte Einlaß begehrte, die dann einen Einführungskurs in Sachen Wundern gab (Bericht folgt).

Das alles will mit bedacht werden und läßt die Theaterinszenierung selbst, die doch für ein Theaterpublikum das eigentliche Ereignis sein sollte, plötzlich ganz klein und nebensächlich wirken, als Vorspiel nur zur Buffeteröffnung, als Trailer zur Party danach, als Durststrecke in einem rundum abgedichteten Wohlfühlambiente. Darf man nicht drauf treten. Und will man auch nicht. Wer wissen muß, wie genau es kommt, daß sich der schwache Richard II. von Bolingbroke (Lancaster) entmachten läßt und eine York-Verschwörung gegen diesen gerade noch aufgedeckt wird, muß die Nase eben ins Buch stecken.

Daß es übel zuging damals, woraus naturgemäß auch nur Übelstes entstehen kann, läßt Castorf immerhin recht sinnlich merken. Nicht nur ist das durchsichtige Kleid der zarten Kathrin Angerer als Königin am Ende ganz zerrissen und sehen auch die anderen ziemlich mitgenommen aus, sondern es wird ein Lederhandschuh geruchsintensiv auf einer Elektroherdplatte verkohlt, und mehrfach steigt Trockennebel auf im Bühnenturm, daß dem Publikum buchstäblich die Sinne schwinden. Ansonsten zieht das Ensemble mit Gasmasken und Gemüsesuppe ins Feld, wechselt mit der Kleidung auch die Rollen und spricht Shakespeare, wie er es ihrer Ansicht wohl verdient.

Offenbar treibt Castorf hier etwas voran, was im Konzeptgedanken der Volksbühne schon immer angelegt, sich aber noch nie so radikal geäußert hatte: ein Theater des Verschwindens. Und irgendwie scheint es keinen zu stören. Völlig unnötig trat der ORB-Radiostar Jürgen Kuttner nach der Pause auf („Überraschungsgast“), um beim Publikum Motivation und Stimmung zu heben. Die Stimmung war ja bestens! Allen gefiel der schöne Theaterturm mit seinen hübschen Séparées, in denen wahlweise Marx-Engels-Bände oder – genauso passend – Groschenromane der Reihe „Fürstenhöfe“ samt Kleenex-Tüchern auslagen. Man brachte sich was zu trinken mit, grüßte fröhlich in die gegenüberliegenden Fenster und guckte während der Vorstellung den anderen beim Zugucken zu.

Shakespeare – dringend gesucht? Vielleicht gehen Gabriele Gysi, Karin Henkel oder Matthias Brenner, die Regieführenden der nächsten Etappen, selbstbewußter mehr ins Detail. Außer dem Bühnenturm hat der Chefinszenator diesmal schließlich nichts vorgelegt, was anderen den Mut nehmen könnte. Vielleicht gehört auch das zur neuen Ausprägung der Volksbühnenlinie. Die Klinge auch mal gegen sich selber richten, die eigene Aura dekonstruieren.