Der Volksfeind kehrt zurück

Wegen eines kritischen Films mußte Odd Lindberg aus Norwegen fliehen  ■ Von Reinhard Wolff

Stockholm (taz) – Elf Jahre nachdem Odd Lindberg als Inspekteur für die Robbenjagd nach Tromsö kam und danach, öffentlich als „Volksfeind“ gebrandmarkt, den Zorn ganz Norwegens zu spüren bekam, will er heute in die Stadt am Eismeer zurückkehren. Für einen Abend allerdings nur: Er ist vom Rektor der Universität zu einer Diskussion über Meinungsfreiheit allgemein und seinen „Fall“ im besonderen eingeladen worden.

Als im Februar 1989 Lindbergs Film über das blutige Zusammenknüppeln und Abschlachten von Robben zunächst im schwedischen Fernsehen und danach weltweit gezeigt wurde, mußte Lindberg sich in dicken Zeitungsüberschriften als „Verleumder“ und „Robben-Judas“ beschimpfen und den Vergleich mit Nazi-Handlanger Quisling gefallen lassen. Nach Anschlägen und Todesdrohungen gegen sich und seine Familie sah er sich ein Jahr danach sogar gezwungen, bei Nacht und Nebel nach Schweden zu fliehen. Dort lebt er mit seiner Familie unter geheimer Adresse in einem einsam gelegenen Haus nahe der Westküste und wagte sich erst in letzter Zeit wieder mehr in die Öffentlichkeit.

„Der Robbenstreit war eine Belastung für unser Land, wir sollten das Kriegsbeil begraben“, meldete sich am Dienstag Hanna Kvanmo, ehemalige Vorsitzende der Sozialistischen Volkspartei im Osloer Dagbladet zu Wort. Die populäre Ex-Politikerin sitzt jetzt in der Kommission, die den Friedensnobelpreis bestimmt, und stand vor zehn Jahren an der Spitze der PolitikerInnen, die Lindbergs Film verdammten und die Robbenjagd verteidigten. Wie auch andere will sie jetzt mit Lindberg Frieden schließen.

Ein Zufall ist das natürlich nicht. Noch in diesem Jahr könnte Norwegen nämlich etwas drohen, was dem Land bislang noch nie passiert ist: Die Verurteilung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verstoßes gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit im Fall des Odd Lindberg. Sein alarmierender Rapport über die blutige Wirklichkeit der norwegischen Robbenjagd, den er 1988 schrieb, wurde nämlich vom Fischereiministerium in Oslo umgehend „Geheim!“ gestempelt, damit bloß nichts davon an die Öffentlichkeit dringen sollte. Das paßte Lindberg nicht: Er steckte eine Kopie der kleinen Tromsöer Zeitung Bladet, die den Bericht veröffentlichte, der schnell weltweit zitiert wurde.

Obwohl die Namen aller Robbenfänger geschwärzt worden waren, gewannen diese einen Schadenersatzprozeß gegen das Blatt. Lindberg habe seinen Bericht nicht als Privatmann, sondern als staatlich angestellter Inspekteur geschrieben, er habe kein Recht gehabt, ihn zu veröffentlichen. Obwohl die Frage einer Verletzung sowohl Lindbergs Grundrechts auf Meinungsfreiheit als auch der Pressefreiheit des Bladet sich aufdrängen mußte, weigerte sich der Oberste Gerichtshof, den Fall zur Revision anzunehmen.

Bladet wandte sich an Straßburg. Im Herbst letzten Jahres entschied die Europäische Menschenrechtskommission mit 27 gegen 7 Stimmen – selbst die norwegische Vertreterin Gro Hillestad Thune stimmte für eine Verurteilung –, der norwegische Staat habe damit die Meinungsfreiheit verletzt. Mit dieser Empfehlung der Kommission ging das Verfahren an den Gerichtshof weiter, der für den Spätsommer seine Entscheidung angekündigt hat. Nach weltweiten Protesten im Gefolge des Lindberg- Films, „Mörder!“-Transparenten vor den Botschaften des Landes und Aufrufen zum Warenboykott droht Oslo damit neues öffentliches Aufsehen in Sachen Robbenjagd, nachdem diese in den letzten Jahren recht ungestört vonstatten gehen konnte, drohen neue Peinlichkeiten.

Ein anderes Verfahren in Straßburg hat auch Lindberg persönlich eingeleitet. Dessen Hintergrund ist eine Klage, welche die Robbenjäger gegen ihn und das norwegische Fernsehen erhoben hatten – wegen Ausstrahlung von Filmmaterial, das Lindberg während seiner Inspektionszeit auf ihrem Fischerboot aufgenommen hatte. Sie bekamen wegen „Persönlichkeitsverletzung“ in erster Instanz auch eine halbe Million Mark zugesprochen – und unter Vorbehalt ausgezahlt –, die in zweiter Instanz aber auf 110.000 Mark gekürzt wurde.

Die Haltung der Mehrheit im Land scheint sich gewandelt zu haben. Tromsös Universitätsrektor Tove Bull: „Es geht um Meinungsfreiheit, und es ist selbstverständlich, daß Lindberg hier seine Meinung sagen darf.“ Der Geschäftsmann Björn Lunde aus Trondheim bot den Lindbergs mittlerweile kostenlos ein Haus an und forderte die Familie öffentlich auf, aus ihrem schwedischen Exil zurueckzukehren. Doch Odd Lindberg ist skeptisch: „Ich glaube, daß ich nie mehr zurück kann.“