Peter Unfried: Ehren-Tor für Deutschland
■ Muß man Ribbeck jetzt nicht auf alle Fälle rausschmeißen? Nö, nur in einem Fall
Nach nun zwei durchflennten Nächten fühlt man sich ein bißchen sehr wie Til Schweiger. Sorry, Til. Weiß schon, daß Bild gegendarstellen mußte, aber natürlich bleibt die Verleumdung hängen („Er weint nur noch“) und nicht das Dementi („Er weint auch nicht“). Gestern morgen war es noch kaum besser. Blumfeld („Tausend Tränen tief“) gehört, dann Hoddle & Waddle („It's Goodbye“). Morgens gelesen: „unfaßbar“ (kicker), „blamabel“ (FAZ), „schändlich“ (Bild), „leise Kritik“ (Berliner Zeitung). Leise schluchzend die Berliner Zeitung gekündigt, dann Anruf von Mutti („Diese Flaschen“). Sofort aufgelegt. Kann vielleicht über Blumfeld reden. Aber warum wir so tief gesunken sind?
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Darum (Bild). Okay, genug geweint. Jetzt muß sich ein ganzes Land aufraffen. Zunächst eine klare Entscheidung: Diese Kolumne kann sich nicht mehr mit naivem Kinderstolz „Tor für Deutschland“ nennen. Noch dröhnt in unseren Ohren das Summen der Rotoren beziehungsweise des ARD-Angestellten Heribert, der Mitte der zweiten Halbzeit erschüttert nur noch um ein „Ehrentor für Deutschland“ winselte. Sie alle wissen es: Es gab nicht mal ein Ehrentor für Deutschland. Jetzt gibt es eins.
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Ja, Mutti, stimmt ja, es hat Schlimmeres gegeben als den „Schwarzen Nachmittag von Jacksonville“ (FR).
Muttis Liste des Schlimmen:
1. 3:8 gegen Ungarn (1954)
2. 0:9 gegen England (1909)
3. 0:6 gegen Österreich (1931)
4. 0:5 gegen Österreich (1931)
5. 1:1 gegen Niederlande (1998)
6. 0:3 gegen USA (1999)
7. 1:3 gegen Niederlande (1992)
8. 0:0 gegen Italien (1996)
9. 1:4 gegen Uruguay (1928)
10. 1:3 gegen Italien (1982).
Trotzdem und ohne Umschweife zur Frage, die wir uns alle in diesen Tagen stellen: Muß Erich Ribbeck eigentlich nicht mal unbedingt rausgeschmissen werden? Dazu eine klare Antwort.
Die „Allianz der Scheinheiligen“ (SZ), jener Zusammenschluß der Branche und der sie begleitenden Medien, weiß spätestens seit Ribbecks Entlassungen in München und Leverkusen über die fachlichen Qualitäten des „Faselhans von Leverkusen (Kölner Stadt-Anzeiger) Bescheid. Trotzdem ließ man ihn machen – also nicht machen. Das Problem ist grundsätzlicher Art und natürlich auch unabhängig vom Ergebnis heute abend gegen Kolumbien. Doch erst in Jacksonville hat Nationalspieler Jeremies Ribbecks totalen Verzicht auf essentielle Bereiche seines Jobs („Wir müssen überhaupt erst mal ein System finden“) benannt. Und Co-Trainer Stielike, der bei sich zumindest an eine vage moderne Form der Ordnung und Aufgabenverteilung denkt, hat sich vor Ribbecks „Taktik“ – die im Beharren auf Libero Matthäus besteht – von der Trainerbank geflüchtet. Gestern veröffentlichte der kicker eine Umfrage unter den Bundesligaprofis: 70 Prozent sagen: Erich, nein danke. 69 Prozent wollen Matthäus nicht bei der EM 2000 sehen. Dagegen stehen 100 Prozent Zustimmung für das Duo in Finnland, Nordirland und Moldawien. Den Türken ist es schnurz, die qualifizieren sich auch so für die EM.
Und nun die Antwort. Nein. Erich Ribbeck muß nicht unbedingt rausgeschmissen werden. Er muß nur in einem unwahrscheinlichen Fall rausgeschmissen werden – wenn man will, daß es besser wird. Aber das will ja keiner. Oder warum hätte man sonst Ribbeck geholt?
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In einer kleinen Hütte in Kleinenbroich sitzt Berti und wiegt schütter sein stolzes Haupt. Das alles stimmt auch ihn „sehr, sehr traurig“. Hihihi. Tja, Leute. Damals! Da konnte ein deutscher Nationalspieler noch nachts unbehelligt die Straße langgehen, ohne Angst haben zu müssen, angepöbelt, ausgelacht und gedemütigt zu werden. Nicht alles war schlecht beim Berti.
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