Berlinale-Anthropologie: Fehlstart
■ Wer den Eröffnungsfilm verpaßt, gerät unerwarteterweise in Erklärungsnotstand
Immer noch trägt Leroi zum Sakko das korrekt weiße Hemd des US-Amerikaners, während Babette, die Kollegin aus Hamburg, sich weiterhin an das vorgeschriebene Kulturschwarz hält.
Wir sitzen in der Bar und nippen an unseren Gläsern und erklären einander, weshalb wir den Eröffnungsfilm versäumen. „Obwohl ich ja ganz gern gesehen hätte, wie der neue Kanzler das macht“, erklärt Leroi, „er ist sexy. Während euer ehemaliger Secretary of the Interior – wie hieß er? Kater? – zwar der Bruder von Lee Marvin hätte sein können, aber sonst war er aus Gips und bemalt.“
An sich finde sie es ja prima, so Babette, daß mal wieder mit einem deutschen Film aufgemacht werde, und dann auch noch ein lesbischer Liebesfilm, an sich alles prima... Das hat doch was von Patentlösung, widerspreche ich streng, zugleich prolesbisch und antinazi. Ich nehme einen ordentlich gesalzenes Schlückchen Margeritha – ein Cocktail, den ich erst vor kurzem richtig kennengelernt habe, in den Weihnachtsferien, in Binz auf Rügen, die neue Bar eines neuen Grandhotels: Überhaupt arbeite sich Binz auf Rügen höchst erfolgreich zurück in die Kulisse eines Gesellschaftsfilms aus den zwanziger und dreißiger Jahren...
„Vielleicht die nächste Verfilmung von Christopher Isherwood?“ schlägt Leroi vor. „Im Jahr 2000 eröffnet die Berlinale am Potsdamer Platz mit ,Goodbye to Berlin‘, in der Hauptrolle Brad Pitt, Wynona Ryder als Sally Bowles. Die Ostsee-Szenen werden in diesem Bince gedreht – wie heißt der Ort? Bince? – und dem Kanzler wird schwummrig bei diesen schwulen Liebesszenen von unglaublicher Kühnheit, die sich Isherwood alle verboten hat.“
Je älter sie werde, so Babette, um so ekliger sei ihr das Zuschauen bei Liebesszenen, auch wenn die jüngsten und hübschesten Menschen gleich welchen Geschlechts beteiligt sind. „Die Kollegin L. hat gesagt, das sei richtig widerlich, das Abschlabbern von Aimée & Jaguar, und dabei ist die Kollegin L. erst Mitte 30.“
Aber wer das widerlich findet, so Leroi, mache sich der Homophobie verdächtig – das habe mir eigentlich gut gefallen, versuche ich abzulenken: Nach der Vorschau zu schließen, seien die Bettszenen den beiden Schauspielerinnen schwergefallen, „unverkennbar eine gewisse Anmut.“
„Das ist mir zu kompliziert“, winkt Babette ab; trotzdem beginne ich von der Pressekonferenz vor drei Jahren zu erzählen, bei der es auch um Geschlechtsverkehr ging, Maria Schrader und Jürgen Vogel und ein Dritter, ich weiß nicht mehr, wer, und gleichzeitig war ja die Schrader die Liebste von Dani Levy, dem Regisseur...
Aber Babette möchte sich noch ein bißchen über PC ärgern, die einen Film wie „Aimée & Jaguar“ so weit nach vorn bringe, „eigentlich ist das doch bloß ein Fernsehspiel. Und dann müssen sie auch noch diese zahnlose alte Frau auf die Bühne zerren, die nicht mal in der Rahmenhandlung selber auftreten durfte! Im funkelnagelneuen Hosenanzug, ein Geschenk der Produktionsfirma, wie sie uns gleich wissen ließ. Und während der Ehemann in Wirklichkeit ein stiller, scheuer Mensch war, darf Detlev Buck im Film zu Ehren der Berliner Republik richtig den Kotzbrocken geben! Also, wirklich...“
Ich bin ganz erstaunt; so kenne ich Babette gar nicht. Normalerweise tendiert sie ins Launige und ist von pädagogischen Neigungen – also PC – keineswegs frei: Filme sollen, auf möglichst ansprechende Art, die Publikumsmentalität verbessern.
Leroi nippt an seinem Whiskey sour (auch den habe ich an Weihnachten in Binz, Statist bei der nächsten Isherwood-Verfilmung, probiert: später Beginn einer Cocktailtrinkerkarriere). „Ihr könnt das ja nicht glauben, aber wir Ausländer hegen immer wieder den Verdacht, daß ihr Deutschen euch bei solchen Filmen wie „Aimée & Jaguar“ insgeheim an den Uniformen und den Fahnen und den Kulissen des Dritten Reiches delektiert – kann man das sagen: ,delektiert‘? Und daß ihr da jetzt noch einer verbotenen Liebesgeschichte zwischen einer blonden Arierin und einer dunklen Jüdin zuschauen dürft?“
Auch wenn sie dramaturgisch gefordert wäre, ich lasse die Cocktailsorte aus, an der Babette sich delektiert: „Da habt ihr uns aber damals mit ,Cabaret‘“, empört sie sich, „eine klasse Einstiegsdroge serviert?!“
Nein, das wird nichts. Wir müssen noch einmal von vorn anfangen. Michael Rutschky
Das Foto zeigt den Schauspieler Jürgen Prochnow; vor drei Jahren wäre bei der Eröffnung Jürgen Prochnow als Bundeskanzler durchgegangen.
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