Frau Holle geht über Leichen

■ Schneemassen haben in einigen Alpenregionen Großalarm ausgelöst. In der Nähe des fränzösischen Chamonix schlug eine „Jahrhundertlawine“ eine Schneise der Verwüstung und riß mindestens zehn Menschen in den Tod

Es war wie ein Donnerschlag, dann eine riesige weiße Wolke und danach nur noch Totenstille“, schildert ein Bewohner den Lawinenabgang, bei dem am Dienstag nahe Chamonix in den französischen Alpen mindestens zehn Menschen ihr Leben verloren. Die rund 200 Angehörigen des Rettungsdienstes arbeiten wegen der andauernden Lawinengefahr unter Einsatz ihres Lebens. Niemand hatte erwartet, daß oberhalb von Argentière im Tal der Arve so etwas passieren könnte. In den Annalen kann man nachlesen, daß es 1908 in diesem Gebiet einmal eine Lawine gegeben hat. In den letzten Jahrzehnten sind hier die Chalets entstanden, die jetzt in Trümmern liegen.

Die Rettungstrupps mußten sich aufgrund der verschütteten Zugangsstraße zunächst auf Schneeschuhen, Skiern und Raupenfahrzeugen mühsam zwei Kilometer zu dem Ünglücksort heranarbeiten. Wegen der heftigen Schneefälle konnten die Hubschrauber nicht starten. Die ganze Nacht über suchten die Helfer im Scheinwerferlicht mit Sonden und Lawinenhunden nach Verschütteten. Der 19jährige Yannick Deschamps, Pistenwart und freiwilliger Helfer, berichtete: „Es sah aus wie nach einem Wirbelsturm.“ Beim geringsten Hinweis auf Menschen unter der meterhohen Schneedecke sei sofort fieberhaft geschaufelt worden. „Mit zunehmender Kälte wurde aber auch der Schnee härter und die Arbeit immer schwerer.“

Es klingt wie eine Ironie des Schicksals, daß die Bergbewohner gerade wegen der Lawinengefahr aufgefordert worden waren, ihre Häuser nicht zu verlassen. Der 57jährige Bergführer Roger Ravanel, der auch Vize-Bürgermeister von Chamonix ist, meint, das Unglück sei keineswegs voraussehbar gewesen. „Es handelte sich um eine Lawine, wie sie nur alle hundert Jahre einmal vorkommt.“

Der Winter hat seit langem wieder einmal richtig zugeschlagen. Binnen weniger Tage wurden die Alpen derart zugeschneit, daß viele Dörfer von der Umwelt abgeschnitten sind. In der Nacht zum Mittwoch wurden in den Schweizer Alpen mehrere hundert Menschen evakuiert. Zudem mußten mehrere Verkehrsverbindungen, darunter auch die Gotthardautobahn, infolge der Lawinengefahr gesperrt werden. Besonders betroffen war das Berner Oberland, wo der Schnee selbst auf den Autobahnen teilweise nicht mehr geräumt werden konnte. Der Flugbetrieb auf dem Flughafen Zürich- Kloten wurde durch den Schnee nahezu lahmgelegt. Bereits in der Nacht auf Montag hatte eine Lawine in Wengen ein Gasthaus weggefegt und tötete die beiden Wirtsleute.

Nach wie vor sitzen Urlauber in zahlreichen Wintersportorten in der Schweiz und in Österreich fest. Das österreichische Bundesheer nahm am Mittwoch seine Versorgungsflüge in die seit Tagen eingeschneiten Skigebiete im Westen des Landes wieder auf. In der eisigen Nacht zum Mittwoch sanken die Temperaturen auch in Deutschland auf minus 16 Grad südlich der Donau. Auf den glatten Straßen ereigneten sich mehrere tödliche Unfälle.

Auch wenn die Schneefälle jetzt nachlassen, ist die Gefahr noch nicht gebannt. Wenn nämlich die Sonne den meterhohen Schnee aufweicht, können Lawinen bis in die Täler hinunterdonnern. Lawinenwinter waren früher normal. Karl Walker, heute 68 Jahre alt, blickt auf die Tage seiner Kindheit zurück, in denen der Schnee mit seiner Lawinengefahr immer eine existentielle Rolle spielte. Er ist in Gurtnellen aufgewachsen, einem Dorf in 1.000 Meter Höhe, in einem heute 500 Jahre alten Haus, das im wahrsten Sinne des Wortes eine bewegte Vergangenheit hat. „Als Kinder hatten wir praktisch jedes Jahr etwa eine Woche schulfrei wegen Lawinengefahr. Am schlimmsten waren die Winter 1940, 1942 und 1951.“

Besonders den Winter 1942 wird Karl Walker nie mehr vergessen. Am 31. Januar um 3 Uhr morgens fegte vom steilen Geissberg eine Staublawine herunter. Dank eines Lawinenschutzes donnerte die Lawine über das Haus hinweg – nur das Dach wurde leicht beschädigt. Die Lawine raste am Dorfrand vorbei, wo sie einige Dutzend Ställe und ein Wohnhaus wegfegte. Eine neunköpfige Familie kam dabei ums Leben. Einzige Überlebenden waren eine Kuh, der von der Lawine ein Horn vom Kopf gerissen wurde, und der Hund, der in jener Nacht um keinen Preis zu bewegen war, im Haus zu übernachten. Die Lawine war so stark, daß im Tal vom bloßen Luftdruck ein Güterzug von den Schienen geblasen wurde. „Heute gibt es nur noch etwa alle vier bis fünf Jahre strenge Winter mit Lawinengefahr“, so der alte Bergler. „Früher war es bei uns üblich, daß die Familie bei Lawinengefahr in einem Stall vom Nachbarn im Heustock schlief, weil der Stall hinter einem Hügel lawinensicher war. Am Morgen zogen wir, jeder mit seinem Bündel, wieder ins Haus zurück.“ Andreas Walker, Aarau