Salon mit Gästen und Geschenken

Die jüdische Welt der Jahrhundertwende als Bestandteil der Moderne: In Wien wird ein Milieu inszeniert. Ankermann ist der Schriftsteller Richard Beer-Hofmann  ■ Von Christian Semler

Alles Schöne schien schon vorgezeigt, alles Kluge schon gesagt. Das Thema „Wien der Jahrhundertwende“ wurde in den 80er Jahren zum österreichischen Exportschlager und ist es bis heute geblieben. Angeregt von ortsfremden bis überseeischen Historikern wie Carl Schorske kulminierte das öffentliche Interesse erstmals in der Ausstellung „Wien – Traum und Wirklichkeit“ von 1986.

In vorderster Linie der intellektuellen K.u.k.-Nostalgiker arbeiteten damals ostmitteleuropäische Demokraten. Ihnen galt das dichte Beziehungsgeflecht der künstlerischen und geistigen Avantgarde im Habsburgerreich als Muster friedlicher Selbstorganisation gegenüber der realsozialistischen Staatsmacht. Und kein geringerer als György Konrad sah im Netzwerk der Künstler und Literaten die postsozialistische Civil Society vorweggenommen. Wien firmierte fortan als Laboratorium der Moderne.

Die soeben im Haus des Jüdischen Museums Wien eröffnete Ausstellung „Zu Gast bei Beer- Hofmann“, die eben dieses Netzwerk thematisiert, ist alles, nur kein Nachzügler der mittlerweile touristisch gewendeten Wien-Euphorie. Es war vielmehr gerade der Zustand der Übersättigung, der der Kuratorin der Ausstellung, Felicitas Heimann-Jelinek, zu einem glänzenden Einfall verhalf. Dabei diente ihr ein heute nahezu vergessener Literat, eben der jüdisch- österreichische Schriftsteller Richard Beer-Hofmann, als Anker.

Heimann-Jelinek ersann eine Abendgesellschaft im Hause Beer- Hofmann, nicht, wie sie wirklich stattgefunden hat, sondern wie sie hätte stattfinden können. Zu dieser imaginären Party brachten die Geladenen Gastgeschenke mit. Es sind diese Geschenke, um die herum die Ausstellung konzipiert ist.

Tatsächlich führte Beer-Hofmann ein offenes, gastliches Haus, wo sich Freunde und Arbeitskollegen regelmäßig einstellten. Zu seiner Zeit war er ein vielbeachteter Schriftsteller und Dramatiker. Einem seiner Stücke, dem „Grafen von Charolais“, verhalf Max Reinhardt zu einem triumphalen Bühnenerfolg. Beer-Hofmann war auch Mittelpunkt eines Dichterkreises, zu dem Hermann Bahr, Arthur Schnitzler und der junge Hugo von Hofmannsthal zählten. Letzterer ein Bewunderer, geradezu Jünger Beer-Hofmanns.

Wie Hofmannsthal kämpfte auch sein Mentor mit den Versuchungen der Dekadenz, breitete vor dem Publikum das komplexe Seelenleben seiner Protagonisten aus und ließ sie in inneren Monologen über Schönheit, Krankheit, Tod und ähnliche letzte Dinge sinnieren. Er war der ästhetischen Moderne seiner Zeit verbunden, gleichzeitig aber fest verwurzelt im Judentum, das er im Rahmen einer humanistischen Traditionslinie, also als kulturelles Erbe, verstand. Ein konservativer Modernist.

Beer-Hofmanns Villa, stilgerecht auf einem Wiener Kaffeehaustisch entworfen von seinem Freund, dem Architekten Adolf Hoffmann, ist längst – als hoffnungslos baufällig – abgerissen worden, das Mobiliar wurde im traditionellen Versteigerungshaus Dorotheum verscherbelt, wo die Stadt Wien geistesgegenwärtig einige Stücke erwarb. Es hätte nahegelegen, aus diesen Restbeständen, ergänzt um Mobiliar der Zeit, einen Salon der Jahrhundertwende zu rekonstruieren und dort die Abendgesellschaft ihren Lauf nehmen zu lassen. Der Witz der Ausstellung besteht aber gerade darin, daß ihre Macher sich diesem bequemen, illusionistischen Weg verschlossen. Der Besucher sollte nicht nur voyeuristisch Wiener Atmosphäre konsumieren, nicht nur Hausherrn, Gastgeschenke und durch sie die Gäste innerhalb eines geschlossenen ästhetischen Ensembles wahrnehmen. Er sollte sich „auseinandersetzen“.

Der für den Aufbau der Ausstellung verantwortliche Architekt Martin Kohlhauer entschloß sich deshalb, drei verschiedene „Wahrnehmungsebenen“ zu konstruieren. Im Lichthof des Museums, in Augenhöhe der Ausstellungsräume des ersten Stockwerks, hat er ein tuchbespanntes Zylindersegment aufgehängt, ein sich drehendes Ringelspiel, auf dem die Scherenschnitte der Gäste samt Numerierung angebracht sind. Die folgenden Innenräume sind weiß gehalten, die Decken abgehängt, um den Stuck zu verbergen. Innerhalb dieses „kontemplativen Raums“ (Kohlhauer) sind die Geschenke zu besichtigen, teils auf Podesten, teils in Nischen eingelassen, oft unter Glas. Nummern auf dem (ebenfalls weißen) Fußboden verweisen auf die Gäste. Texte verdeutlichen deren biographischen Zusammenhang mit Beer-Hofmann und skizzieren, was es mit dem jeweiligen Geschenk auf sich hat. Links und rechts dieser weißen Zimmerflucht sind die Räume im Orginalzustand belassen. Großflächige farbige Projektionen und, neben ihnen, einzelne originale Möbelstücke, zeigen das Interieur der Villa Hofmanns. Ein altösterreichisch-jüdisches Ensemble, ovale Porträts der Eltern und Verwandten im konventionellen Stil an der Wand, ein kristallener Kübel mit Blattgirlanden und dem Davidstern in der Mitte. Wie zum Hohn quillt aus einer Art Volksempfänger gedämpft der Jubel der Wiener Stadtbevölkerung anlässlich des Hitler-Besuchs nach dem Anschluß.

Wann fand diese fiktive Abendgesellschaft statt, wer wurde eingeladen, was haben die Gäste mitgebracht? Der zeitliche Rahmen ist großzügig gespannt, irgendwann zwischen der Jahrhundertwende und den späten 20er Jahren. Die Gäste: heute Unbekannte und heute Weltberühmte. Meist, aber nicht nur, Juden, überzeugte Österreicher, Zionisten, allesamt emanzipierte Mitglieder der Wiener Gesellschaft. Wir finden Schriftsteller, Musiker, einen Geschäftsmann, einen Politiker (Theodor Herzl), einen Gelehrten (Sigmund Freud). Alle haben Beer-Hofmann gekannt, aber nicht alle waren Gäste in der historischen Villa – hätten es aber sein können. Umgekehrt sind nicht alle der historischen Gäste vertreten, zu einigen ist den Ausstellungsmachern partout kein Gastgeschenk eingefallen.

Diese Geschenke und ihre Beziehung zueinander bilden den eigentlichen Clou. Es sind Embleme. Teils kommen sie gravitätisch-bedeutungsschwer daher, wie die Miniaturnachbildung von Michelangelos Moses, die Freud mitgebracht hat (er war zeitlebens vernarrt in Kleinplastik für den Hausgebrauch, in seine „alten, dreckigen Götter“). Teils sind es Autografen, wie ein Notenblatt Schönbergs, dessen Bruch mit der Wiener Sehnsuchtsmusik Beer-Hofmann bestimmt mißbilligte. Teils handelt es sich um wunderbaren Jugendstil-Nippes wie den Maskenrahmen Vally Wieselthiers, und schließlich haben wir es mit schierem Pop zu tun, wie Felix Saltens (viel später erfundenes) „Bambi“-Reh unter Glas oder die blaue Mütze der Wiener Burschenschaft Albia, der der (später rabiat antisemitische) Schriftsteller Hermann Bahr ebenso angehörte wie Theodor Herzl. Ein Strauß aus bedeutenden Werken, Skizzen von Gustav Klimt etwa oder Oskar Kokoschka, Kunstgewerbe gehobenen Anspruchs, aus Dekorativem bis hin zur Werbegraphik, wie dem Plakat für den Stummfilm „Das fremde Mädchen“. Dessen Texter, Hugo von Hofmannsthal, hätte den Teufel getan, es Beer-Hofmann als Gastgeschenk anzutragen. Hier haben wir es, das „dichte Beziehungsgeflecht“. Tradition und Moderne schneiden sich im Kopf des Betrachters. „Ein besonderes Anliegen“, schreibt die Kuratorin Heimann-Jelinek, „war es, die Ausstellung selbst als das offenzulegen, was sie ist: ein Konstrukt unseres Geschichtsbildes“.

Dieser methodenkritische, reflexive, „verfremdende“ Geist bestimmt nicht nur die Ausstellung „Zu Gast bei Beer-Hofmann“, sondern die gesamte Arbeit des Wiener Jüdischen Museums. 1895 gegründet, war es das älteste seiner Art in Europa. Die Nazis horteten seine Exponate, „reicherten“ sie mit weiterem geraubten Gut an, um sie nach dem „Endsieg“ einem großen antijüdischen Propagandaprojekt einzuverleiben. Das neu gegründete Museum verwarf die Idee, eine Art Geschichte der Juden in Wien auszumalen.

Statt dessen wird der zweite Stock des Museums von farbigen Hologrammen eingenommen, die Stationen dieser Geschichte zeigen, umrahmt von einem auf dem Fußboden entlanglaufenden Jahreszahlenband. Vorherrschend bleibt der Eindruck von Abwesenheit, Leere.

Im Obergeschoß sind, wie in einem Depot, liturgische Geräte, Leuchter, Thorarollen, Gebetsteppiche, weniger aus- als zusammengefaßt. Der langjährige Mitarbeiter des Museums und sein jetziger Leiter, Karl Albrecht-Weinberger, insistiert darauf, daß Religion nicht museal darstellbar ist, insbesondere, wenn es sich um eine so schriftzentrierte Religion handelt wie die jüdische.

Er will, was in den zerstörten Synagogen und arisierten Häusern der Wiener Juden aufbewahrt war, nicht als Kunstwerk im Museumsrahmen verfügbar machen. Diese Verweigerung bedeutet gerade nicht, auf Erinnerung, auf das „Eingedenken“ zu verzichten. Eine Ausstellung über Egon Erwin Kisch hat in der Bundesrepublik Karriere gemacht, eine Karl Kraus gewidmete mit neu entdeckten Handschriften wird dieses Jahr eröffnet. Dem kleinen Stab des Museums gehören auch zwei Museumspädagogen an, die Materialien für den Unterricht bereitstellen.

Das Museum verfügt über ausgebaute internationale Beziehungen (die Beer-Hofmann-Ausstellung beispielsweise war zuerst, in freilich gänzlich anderem Rahmen, in Amsterdam zu sehen). Dem gegenseitigen Leihverkehr freilich sind enge Grenzen gesetzt. Kein Museum läßt gern seine Exponate wandern. Auf großformatige Meisterwerke jüdischer Maler wird das Museum vergeblich hoffen.

Soll das Jüdische Museum zum Konzentrationspunkt jüdischer Geschichte werden, einschließlich seiner jüngsten Katastrophengeschichte, der Shoah? Albrecht- Weinberger ist skeptisch. Gehören nicht die Kopfpräparate von jüdischen Opfern des KZ Auschwitz weiter ins Naturhistorische Museum, als Schreckensbilder entfesselter medizinisch-naturwissenschaftlicher Destruktivkräfte?

Mit Bedacht hat das jüdische Museum, das vom österreichischen Bund und der Stadt Wien finanziert wird, die private Rechtsform einer Aktiengesellschaft gewählt. Es hat sich herausgestellt, daß diese Konstruktion mehr Vertrauen erweckt bei den Familien überlebender Juden, mehr Bereitschaft, dem Museum Erinnerungsstücke anzuvertrauen, mit ihm zusammenzuarbeiten. Berlin, de te fabula narratur!