Am 14. Februar jährt sich zum zehnten Mal der Mordaufruf Ajatollah Chomeinis gegen Salman Rushdie. Der „schwarze Pfeil des Todes“, den der religiöse Führer des Iran 1989 abgeschossen hat, ist immer noch in der Luft. Die Fatwa richtet sich nicht nur gegen die Meinungsfreiheit eines Schriftstellers, gegen seinen Roman „Die Satanischen Verse“. Sie ist ein Todesurteil gegen das Genre an sich, gegen Vielfalt, Unruhe und Perspektivenwandel Von Christian Salmon

Fatwa gegen die Fiktion

Als am 14. Februar 1989 die Nachricht vom Todesurteil gegen einen Romanautor um die Welt ging, erschien das zunächst wie ein Anachronismus. Zehn Jahre lang hat diese beispiellose Affäre dann die Geheimdienste mehrerer Länder, Armeen von Diplomaten und Polizisten, fundamentalistische Kommandos und aufgeschreckte Medien mobilisiert. In dieser Zeit hätte Salman Rushdie sich in seinen medialen Spiegel versenken können, wo die schlimmsten Tragödien nach Prinzessin-Diana-Art virtuell werden. Wenn er der medialen Treibjagd entkommen ist, dann vor allem, weil er Schriftsteller war und nicht nur einen Staatsterrorismus bekämpfte, sondern einen zweiten Kampf führte, subtiler und schwerer: gegen eine andere Fatwa, gegen die des Vergessenmachens der Literatur.

Diese Fatwa ging nicht von den Mullahs in Teheran aus, sondern von zum Teil progressiven Politikern, aufgeklärten Geistlichen und sogar Schrifstellern wie John Le Carré. Unmittelbar nach der offiziellen Fatwa beeilten sie sich, ihre Solidarität und ihr Verständnis kundzutun – nicht für einen bedrohten Schriftsteller, sondern für „in ihrer religiösen Überzeugung verletzte Muslime“. Der Pariser Erzbischof Decourtray stellte eine Verbindung zwischen der Rushdie-Affäre und der wenige Monate zuvor entfachten Kampagne gegen Martin Scorseses Film „Die letzte Versuchung Jesu“ her und erregte sich: „Wieder einmal werden Gläubige in ihrem Glauben verunglimpft: Gestern in einem Film, der das Gesicht Christi verzerrt, heute die Muslime in einem Buch über den Propheten.“

Der Erzbischof von New York und der Großrabbi von Jerusalem, der Vatikan und Margaret Thatcher äußerten sich ähnlich. Jacques Chirac, später Staatspräsident Frankreichs, sagte: „Ich habe keine Sympathie für Herrn Rushdie.“ Zehn Jahre danach erweist sich die Rushdie-Affäre als letzte, theatralische Szene einer Tragödie, in der alle Personen – Medien und Mullahs, „aufgeklärter“ Westen und radikaler Islamismus, politische und religiöse Eminenzen – einer nach dem anderen demaskiert worden sind. Ob in Paris oder New York, London oder Jerusalem – die Fatwa ist in dem Maße hoffähig geworden und Salman Rushdie suspekt, in dem Literatur in Vergessenheit gerät. Das ist es, worum es in dieser Affäre wirklich geht, und was nur Salman Rushdies Talent, Mut und unermüdliche Präsenz zum Vorschein gebracht haben: das Vergessenmachen von Literatur, der Haß auf die Kunst, der dieses Jahrhundert heimsucht, die Fatwa gegen die Fiktion.

Dieser Fatwa zufolge verletzten Gogols „Tote Seelen“ die Unsterblichkeit der Seele, Flauberts „Madame Bovary“ rechtfertigte den Ehebruch und Nabokovs „Lolita“ – ein Roman, den man heute gar nicht veröffentlichen könnte – die Pädophilie. Joyces „Ulysses“ wurde als Latrinenliteratur und literarischer Bolschewismus qualifiziert. In Paris 1922 veröffentlicht, blieb er in den USA bis 1933 verboten, in Großbritannien bis 1937. In all diesen Zeiten zirkulierten zwar Pornographie, antireligiöse Traktate und beleidigende Pseudoromane im Überfluß. Aber verbissen hat man sich immer in die Literatur. Die Fatwa gegen Salman Rushdie verurteilte nicht die Meinungsäußerung, nicht nur den Roman „Die Satanischen Verse“, sondern das Genre Roman an sich.

Nadejda Mandelstam erinnert sich an eine Erzählung Nikita Chruschtschows über Stalin, der im Fernsehen einen Schaupieler in der Rolle eines Verräters sah. Stalin war so beeindruckt, daß er erklärte, nur ein wirklicher Verräter könne diese Rolle so gut spielen. Sogleich verordnete er, Gegenmaßnahmen zu treffen. Ein halbes Jahrhundert später, am 13. Februar 1989, sah auch Ajatollah Chomeini fern. Er sah die Polizei in Pakistan auf Demonstranten schießen, die gegen das Erscheinen eines Buches namens „Die Satanischen Verse“ in den USA protestierten. Chomeini hatte das Buch nicht gelesen, aber er war so beeindruckt, daß er folgerte, ein Buch mit so einem Titel könne nur blasphemisch sein und keinen anderen Zweck haben als Verunglimpfung und Gotteslästerung. Sogleich diktierte er eine Fatwa, in der er alle Muslime der Welt aufforderte, „Salman Rushdie und seine Verleger, wo auch immer sie sind, schnellstens hinzurichten“.

Die beiden Anekdoten zeugen von einem altbekannten Unglück der Literaturgeschichte: die Verwechslung von Realität und Fiktion. Die Massen in aller Welt, die sich gegen „Die Satanischen Verse“ erhoben, hatten den Roman nicht gelesen. Wie Ajatollah Chomeini reagierten sie nur auf den Buchtitel, so als ob „Die Satanischen Verse“ ein antireligiöses Pamphlet seien und kein Roman. Hunderttausende demonstrierten, ohne es zu wissen, gegen das Verhalten eines Menschen, seine Träume und Ideen. Menschenmassen waren wegen fiktiver Gestalten zum Töten bereit. Aber wie kann man ihnen das vorwerfen, wenn die Eliten des Westens den gleichen Fehler begehen?

Große Werke erkennt man an der Unruhe, die sie in den Geistern säen, weil es ihnen nicht um die explizite, obszöne Verletzung von Verboten und Tabus geht, sondern um einen Wandel der Wahrnehmung, eine Umwälzung der Sensibilität. Sie suchen, wie Rushdie schreibt, „neue Perspektiven zur Durchdringung der Wirklichkeit“ und streiten für eine andere Hierarchie der Sinne. „Die Satanischen Verse“ handeln nicht nur von gewissen Koran-Episoden und der wahrscheinlichen Verurteilung ihres Autors zum Tode, weil er seine profane Stimme gegen das heilige Buch erhoben und damit Zweifel gesät hat. Sie sind „eine Liebeserklärung an die Emigration“, an die kulturelle Vermischung und das Barocke im modernen Leben. Sie machen aus dem Exil das Schlüsselerlebnis für eine Neuentdeckung der Realität.

Die „Verse“ sind der erste große karnevalistische Roman der Ära der Globalisierung. Sie bilden die Weltsicht eines Immigranten nicht als etwas Exotisches und Fernes, sondern sie erfassen von innen heraus die in dieser Erfahrung enthaltenen Konflikte und Widersprüche: den Perspektivenwandel, die neuen Beziehungen zu Raum und Zeit, zum Körper, zur Sexualität, zur Kultur, zur Religion.

Das auf London stürzende Flugzeug zu Beginn des Romans ist nicht so sehr eine Metapher, eine freie Figur des Hineinfallens in die westliche Zeit, sondern auch eine Figur des metaphysischen Falls und der Verbannung aus einer theozentrischen Welt als Anfangspunkt für eine Neuaufteilung der Begriffe Gut und Böse. Die traditionellen Werte bleiben als Souvenirs erhalten, als Fetische und Abfall, deformiert in dem Strudel von Formen und Werten des Rushdie- Karnevals.

Gilles Deleuze sagte, die wesentliche Funktion der Fiktion sei die Erfindung eines fehlenden Volkes. Rushdie und seine wandernden Riesen vermitteln uns die Geburt eines Volkes – eines Volkes von Immigranten zwischen London und Bombay, eines Volkes von übersetzten Menschen, die jenseits ihrer Ursprünge versetzt worden sind, und bei denen Werte und Identitäten sich als durchlässig erweisen, sich vermischen und sich gegenseitig infizieren.

Die Fatwa gegen Rushdie rekrutiert ihre Anhänger im Widerstand gegen diese Störung von Identität – nicht nur in Teheran. Zensur ist heute die Tyrannei der Einheitlichkeit. Verfolgt wird das Suchende, das Unausgegorene, das Heterogene, das Vielfältige. Es überrascht nicht, daß der Roman in seiner Arbeit mit Sprache und Identität, in seiner Suche nach neuen Formen der Identifikation auf die ausgebluteten und fanatisierten Massen trifft, die im blinden Gefolge des Propheten der Reinheit in all ihren Formen den entgegengesetzten Weg der Suche nach einer verlorenen Identität gehen, den Weg einer sinnlosen Regression zurück zu Ursprüngen. Übersetzung aus dem

Französischen: D.J.

Der Autor ist Generalsekretär des Internationalen Schriftstellerparlaments